// 2008

// Bücher

Das implizite Sachbuch

Ursula Büttner
Weimar. Die überforderte Republik
Klett-Cotta 2008

Lothar Machtan
Die Abdankung
Propyläen 2008

Die sprachlose soziale Lebenswelt veranlasst und akzeptiert die Verbalisierungen der Ideologie, aber nicht umgekehrt: Eine Ideologie überzeugt nur Überzeugte. So Paul Veyne in seinem Buch, das ich an einer anderen Stelle schon zu würdigen versuchte. Ein Satz, der im Kontext der Christianisierung geschrieben wurde, im Kontext der Moderne allerdings von grundstürzender für viele unserer Überzeugungen ist. Denn wir glauben ja, dass Ideologie und Fanatismus selbst eine Gefahr sei. Sie ist mit Veyne gesehen viel größer, insofern sie in der Lebenswelt selbst schon bereit liegt. Es sind aber nicht allein die Ideologen, sondern auch die Beobachter der Gesellschaft, die in der zeitgenössischen Publizistik ihre Beobachtungen mitteilen. Allerdings gehören diese zu Verbalisierungen, denen nur ein Ausschnitt der sozialen Lebenswelt zustimmen mag.

Ursula Büttner hat ein höchst materialreiches und sehr gut lesbares Buch geschrieben, aus dem man unendlich viel lernen kann. Darf man aber von Büchern Sachen fordern, die diese einfach nicht hergeben? Ich frage mich zum Beispiel, ob es nicht auch Bestandteil einer Geschichte der Weimarer Republik sei, was diese selbst an politischen Analysen und gesellschaftlichen Beschreibungen hervorgebracht hat? Die fehlen in diesem umfangreichen Buch von Büttner. Natürlich nicht ganz. Aber doch fast ganz. Was ich damit meine?

Die Tragik der Weimarer Republik

Man stelle vor, man wollte Ihnen aus dem Leben eines Schriftstellers erzählen, dessen Tagebücher, Briefe und Werke aber an keiner Stelle hinzugezogen würden, ein Menschenleben also als komplett bewusstloses. So ist das hier ein wenig. Die Weimarer Republik als eine sich ihrer selbst vollkommen unbewußte Gesellschaft. Ist dagegen nicht gerade der öffentlich ausgetragene Streit über die Gesellschaft nicht geradezu ein Kennzeichen der Weimarer Zeit? Sind die Kräfte, die die Weimarer Republik überforderten nicht auch Kräfte gewesen, die sie interpretierten? Und besteht die Tragik des Untergangs der Weimarer Republik nicht darin, dass man ihn sehenden Auges auf sich zukommen sah? Als bedeutende politische Reihe erscheint zum Beispiel im Verlag Diederichs die Politische Bibliothek.

Warum aber schließen die Historiker dieses Auge, mit dem sich eine Gesellschaft selbst beobachtet? Sieht es unscharf? Ist es farbenblind? Oder würde der Bezug auf die Selbstdeutung der Weimarer Republik den Historiker auf bloßes Nachsprechen reduzieren? Ist dieses Auge ein blinder Fleck der Historiker? Oder wurde damals tatsächlich nur dummes Zeug geschrieben? Sind diese Selbstdeutungen alle nur Primärtexte und als solche in und mit ihrer Zeit unentwirrbar verwoben und daher unbrauchbar? Sind diese Texte in einer Vorstufe der wissenschaftlichen Aufarbeitung und Verarbeitung gleichsam schon im Buch, aber nur implizit?

Ist die Weimarer Republik ein Gegenstand, der gar nicht von 1918 – 1933 dauerte, sondern erst 2008 in einem Buch von Ursula Büttner entdeckt wird?

Nichts Neues über die Neue Sachlichkeit

Über die die Weimarer Zeit besonders charakterisierende „Neue Sachlichkeit“ schreibt Büttner im Untertitel des knapp vier Seiten umfassenden Artikels: „kritische Zeitbetrachtung und reaktionäre Gegenwehr“. Dann kommen Namen und Titel zur Sprache, die wir überall sonst auch lesen können. Würde man alles was man über diese Zeit weiß nur aus diesem einen Buch beziehen, müsste man glauben, dass die Menschen dieser Zeit auf eine gespenstische Art und Weise taub und blind für sich selbst, ihre Mitmenschen und die Gesellschaft waren, in der sie lebten. Wir wissen irgendwie, dass es so nicht war und doch ist dieses Buch nicht geeignet, uns vom Gegenteil zu überzeugen.

Einer der Effekte ist der: Wenn man Bücher aus dieser Zeit zur Hand nimmt, ist man wirklich und wahrhaftig verblüfft, wie weit diese Zeit sich selbst auf den Begriff zu bringen wußte. Dass sie also gerade nicht eine sprachlose soziale Lebenswelt sei, die erst der Arbeit der Historiker bedarf, die sie ausspricht.

Humor als Darstellungsform

Um näher zu erläutern, was ich meine, nehme ich mal ein Gegenbeispiel, das ich bei Lothar Machtan finde. Gegenüber Ursula Büttner kann hier weder von Materialreichtum noch von Lesbarkeit die Rede sein. Mit mehr Freude an der Skurrilität des Themas hätte das ein schönes Kabinettstückchen werden können. Aber Machtan erklärt lieber, „warum alles so kam“, statt auch den in der Geschichte verborgenen Humor zu nutzen. Dass er diesen nicht deutlich genug sieht, zeigt und nutzt, sollte vielleicht einmal als schwerer Darstellungsfehler innerhalb der Historiker sanktioniert werden.

An einem Punkt aber macht er es dann doch anders als die Zunft. Er schreibt: „Je mehr die Fürsten mediale Interessen berücksichtigten, desto größer wurde die Gefahr, ihre Reputation an ebendiese Medien zu binden – und sie gegebenenfalls auch zu verlieren. Ihr Problem war, dass sie diese Dynamik der massenmedialen Nebenwirkungen in den unterschiedlichen Öffentlichkeiten nicht einmal im Ansatz reflektierten.“ Diese Reflektion blieb nach Quellenlage bei Machtan also aus. Und es ist nicht der Historiker, der diese Reflexion anstellt. So ist folgendes im Vorwärts von 1914 zu lesen und Machtan enthält uns das glücklicherweise nicht vor:

„In der dummen Sucht, dem beglückten Bürgerauge auch nur ja jede Position der Herrscher aufzudecken, vergaß der Mann an der Kurbel oft genug, dass auch in den höchsten Sphären Schönheitsfehler zu Hause sind, und dass zwar der Filmfabrikant, aber nicht sein Apparat an loyaler Gesinnung zu leiden hat.“ Folglich „durchbraust stürmische Heiterkeit das Haus, wenn ein alter Knacker Treppen herunterwackelt, und wenn seine irdische Erscheinung so in recht possierlichem Gegensatz zu seiner himmlischen und göttlichen Mission hienieden steht. Sind sie nicht zum Nachdenklichwerden, diese Könige im Kino?“

Die theoretische Grundlage für das, was Machtan in seinem Buch schildert, haben wir im Grunde schon von Paul Veyne gehört. Im November 1918 kam es zu einer fast widerstands- und geräuschlosen Abdankung der gekrönten Häupter. Die Lebenswelt forderte Neues. Eine Ideologie überzeugt nur Überzeugte und eine Abdankung kann so etwas werden, wie die Schließung einer Gaststätte aus Altergründen.

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Kein Lettner für Europa


Paul Veyne
Als unsere Welt christlich wurde
C.H. Beck 2008

Die viel beschworenen christlichen Wurzeln Europas, in Europadebatten reichlich bemüht, nie jedoch ernsthaft ausgegraben, kann Paul Veyne nicht erkennen. Eher schon wurzelt das Christentum in den europäischen Institutionen. Denn religiöse Merkmale sind viel weniger bedeutsam zur Charakterisierung unserer modernen Zivilisation als zum Beispiel rechtspolitische. Ein ziemlich ernüchternder Befund für die, die die Zugänge nach Europa mit einem neuen Lettner abzuriegeln trachten. Mit einem einzigen Satz von Paul Veyne lässt sich diese Debatte fast aushebeln: Wir bewohnen alle ein altes Haus, aber die wenigsten von uns teilen die Überzeugungen und Verhaltensweisen der früheren Bewohner.

Paul Veyne spricht in seinem Buch nicht nur mit uns, was die wenigsten Gelehrten verstehen. Er macht mehr, er lässt uns selbst zu Wort kommen. Irgendwie immer so, als hätten wir gerade zuviel Karlheinz Deschner gelesen, der auch gerne entlarvend schreibt, der hinter die Kulissen späht und überall auf bloß machtpolitischen Zynismus stößt. Genauso lässt uns Paul Veyne zu Wort kommen. Statt Interessen aber deckt er Strukturen auf. Man könnte sagen, er holt uns ab. Während wir jedoch den Bus erwarteten, fährt Veyne mit uns U-Bahn.

Nachtrag vom 02.03.2009 zur einer Rezension von Als unsere Welt christlich wurde von Ute Eisinger:

Bei Sachbüchern ist es eine besonders seltene Erfahrung, dass man glaubt, man habe ganz verschiedene Bücher gelesen. Eine Rezensentin von literaturkritik.de schreibt: Besser ist es, zu Arnulf Zitelmanns „Geschichte der Christen“, einem Sachbuch für die Jugend, zu greifen. So ehrenvoll der Hinweis auf das „Sachbuch für die Jugend“ sein mag – scheint es doch ein Buch zu sein, welches die Rezensentin gelesen hat – ist diese Rezension doch selten wirr und holprig. Nachzulesen ist der Text von Ute Eisinger hier unter literaturkritik.de.

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Frisierte Lackaffen

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Joachim Bauer
Das kooperative Gen
Hoffmann und Campe 2008

Dieter Hattrup
Darwins Zufall oder wie Gott die Welt erschuf
Herder 2008

Frans de Waal
Primaten und Philosophen
Hanser 2008

Ich hatte vor einiger Zeit das zweifelhafte Vergnügen, mit jemanden in eine Diskussion zu geraten, der sich offensichtlich an dem Buch von Richard Dawkins Das egoistische Gen überfressen hatte und in aller Welt nur die Durchsetzungskraft der Gene behauptete und wahrnahm. Das war ungemütlich, denn mein Gegenüber war nicht bereit, darin die alte Tautologie zu erkennen: der Tüchtigste überlebt und wer überlebt ist der Tüchtigste. Nun von Dawkins reformuliert: die vererbten Gene sind die Gene, die egoistisch sind und die egoistischen Gene sind die, die vererbt werden. Das mit den Genen wird da ja irgendwie als substanzielle auf nichts anderes selbst rückführbare Wahrheit genommen und gewinnt dadurch etwas fast Religiöses. Schlimmer noch, ich konnte nicht Joachim Bauer, den Autor der hilfreichen Handreichung Das kooperative Gen hinter einem Vorhang hervorziehen und ihn kompetent erklären lassen, dass genetische Informationen nicht nur zwischen Individuen derselben Arten gemischt werden, sondern dass das Erbmaterial auch über die Artgrenzen hinweg erworben werden kann. Ein Genom kann sich selbst verändern. In den Diskussionen, die Sie führen müssen, wissen Sie nun was hilft!

Nach Hattrup hat Darwin mit der Evolutionstheorie den Zufall in die Naturwissenschaft eingeführt, insofern in der Entwicklung der Arten zufällige Varietäten entstehen. Im Wissen aber gibt es nur Gesetz und Notwendigkeit. Den Zufall aber kennzeichnet Nichtwissen. Hattrup ist Physiker, darum geht sein Buch auch auf die Rolle des Zufalls in der Quantenphysik ein. Der Zufall öffnet die geschlossene Welt der Notwendigkeit einen Spalt breit und lässt das Licht einer anderen Wirklichkeit ein, die die Evolution in Schöpfung zurückverwandelt.

Mit Frans de Waal nähern wir uns gegenwärtigen Auffassungen einer neuen Wissenschaft von der Natur, in der Tier und Mensch als fühlende, sich gegenseitig erfassende Wesen Platz haben. Dieses Erfassen illustriert die Geschichte von Frans de Waal am besten, nach der er ein Bonoboweibchen dabei beobachtete, wie es ein Vögelchen, das hilflos am Boden lag, aufnahm und wieder fliegen ließ. De Waal bezeichnet Konrad Lorenz und Richard Dawkins Ideen als „Fassadentheorie“, nach der Moral nur ein kultureller Lack sei und die Menschen nichts weiter als frisierte Lackaffen. Eine Vorstellung latenter Aggression, die der Hypochonder Nietzsche besonders anschaulich beschrieben hat, indem er den Menschen als auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend definierte. Das ist Literatur. Dagegen stellt der Empiriker de Waal Tatsachen unter den Primaten fest wie reziproken Altruismus und emotionale Ansteckung . Dabei kann er sich auf die Vorarbeit von zwei ganz Großen der Primatenforschung berufen: Jane Goodall und Dian Fossey.