// 2010

// Bücher

Ein Erotomane der Landschaft

Roger Willemsen
Die Enden der Welt
S. Fischer 2010

Roger Willemsen ist vielleicht derjenige neuere Sachbuchautor, den man mit einer Erscheinung vergleichen kann, die in Deutschland komplett vergessenen ist: Emil Ludwig. Mit ihm hat er die drei e gemeinsam: eitel, elegant, erfolgreich. In seinem neuen Buch ist Willemsen ein herrlicher Erotomane auch der Landschaften. Lässt man den Schutzumschlag fallen, hält man einen in feines Leinen gebundenen Buchleib in Händen.

// Bücher

„Es schreibt sich nur so schlecht auf dem Lande“

Martin Tamcke
Tolstojs Religion
Eine spirituelle Biographie
Insel 2010

Sollte Tolstoj eine spirituelle Biographie besitzen – für ihn selbst wäre das vermutlich zweifelhaft – wird sie in diesem Buch von Martin Tamcke vollständig ruiniert. Warum? Zunächst einmal, weil man von Martin Tamcke buchstäblich nichts lernt. Er versteht es weder, den politischen Kontext der Überlegungen Tolstojs angemessen zu erläutern, noch das direkte Umfeld der Familie und Berater Tolstojs zu beleuchten.

Unhistorische Perspektive

Dass die Besuche Tolstojs in Moskauer Armenvierteln längst als so genanntes ’slumming‘ zur sozialreformerischen Praxis in Europa gehörte und bedeutende Sozialreportagen hervorgebracht hat, erläutert Martin Tamcke nicht. Auch die Glorifizierung des einfachen Landlebens durch Tolstoj erscheint bei Tamcke nicht in seinem europäischen Zusammenhang. Zweifellos, dies zeigt besonders schön der Buchumschlag, war Tolstoj, wenn er sich im Bauernlook fotografieren und malen ließ, derjenige, der seine Ideen auch durch einen neuen Dresscode konsequent kommunizierte und plausibilisierte. Martin Tamcke aber stilisiert Tolstoj zum Begründer der Bewegung: „Seitdem zog es zahlreiche Menschen überall auf der Welt im Geiste Tolstojs aufs Land und in ein alternatives Leben bäuerlich-intellektueller Kommunen.“ Abgesehen von der absurden Übertreibung Tamckes („überall auf der Welt“) zeigt sich hier, dass in diesem Buch auch verständliche Sätze vorkommen. Zu den unverständlichen Sätzen gleich mehr.

Dass Russland gewiss nicht der einzige Staat war, der die Gesellschaft mittels der Religion zu formen suchte, bleibt durch den ökumenischen Theologen Tamcke, der doch die Rolle des Protestantismus in Deutschland kennen wird, ungesagt.

Zu Wladimir Tschertkow, dem fragwürdigen Paulus an der Seite Tolstojs, erfährt man von Martin Tamcke leider nichts. Tolstojs bedeutende Mitarbeiterin an den epischen Hauptwerken, Sofia Andrejewna Tolstaja, ist in ihren Urteilen über Tolstoj nach Tamcke stets unmaßgeblich.

Ökumenische Lieblingsdisziplin: Ringen

Martin Tamcke, der bei seinem Buch von einem Essay und Versuch spricht, scheut nicht den Griff in die Begriffskiste der Sonntagsprediger und daher tauchen in seinem Buch so grausliche Worte wie „Verstandesbedenken“ und „Antwortpotential“ auf. Zugleich fehlt Tamcke jeder Sinn für das Alberne dieser selbst ernannten Heiligen, wie den stets kranken Cousin von Sofia Andrejewnas, der den klösterlichen ‚Krankenschein‘ als Ausweis gottgefälligen Lebens lobt. Wem der Sinn für Komisches abgeht, der wird bei Tragödien, wie Flucht und Tod Tolstojs, gerne besserwisserisch und erläutert Sachverhalte, die das Unglück vermieden hätten.

Die Lieblingssportart der Prediger ist das Ringen. So ringt bei Martin Tamcke Tolstoj mit viel Fleiß, aber auch der Christ, vor allem der „gemeine“, ringt gerne innerhalb vollkommen sinnfreier Sätze: „Wo aber der gemeine Christ als Einzelner um seine religiöse Identität ringt, da bricht als Spiegelung des historischen Mönchtums dessen Lebensform nicht selten als Weg oder Anfrage in ihm auf.“

Die Tolstoj-Zitate zählen in diesem Buch zu den ganz glasklaren Stellen. Martin Tamcke zitiert Tolstoj einmal mit dem Satz: „Es schreibt sich nur so schlecht auf dem Lande.“ Und warum erläutert Tolstoj selbst: „Mich drängt es so sehr, zu mähen oder Holz zu hacken.“

Der Ruf nach dem Lektor

Selten hält man ein derart wenig durchdachtes und noch weniger durchgearbeitetes Buch in Händen: „Im Kern stand nun aber nicht mehr die Wende im Zentrum.“ Dass in diesen Fällen immer gleich nach dem Lektor geschrien wird, ist üblich, sollte man hier aber nicht gelten lassen.

Schließlich hat Martin Tamcke ja noch wissenschaftliche Assistenten und Hilfskräfte. Was sagen die denn zu solchen Sätzen? „Tolstojs Leben wurde zu einem Leben von diesem atemberaubenden Ort außerhalb her auf die von dort aus zu verändernde Wirklichkeit zu.“

// Bücher

Unter Menschen

„Gesellschaften beschreiben sich permanent selbst – und diese Beschreibungen haben erhebliche Konsequenzen für die Gesellschaft. Letztlich läuft ihr Selbstkontakt über solche Beschreibungen. Und es pflanzen sich diejenigen Beschreibungen am besten fort, an die man am plausibelsten anschließen kann.“ Zu Armin Nassehi, von dem dieses Zitat stammt, weiter unten.

Martin Sonneborn
Heimatkunde
Eine Expedition in die Zone
Ullstein 2010

Man wünscht sich bei allen Autoren, die ein Buch über Deutschland und deutsche Politik und deutsche Wirtschaft schreiben wollen, dass sie zuerst einmal unter Menschen gehen, nicht zu den Menschen! Was sie davon abhält, kann man nur schwer sagen, vermutlich ahnen sie, dass es dann nicht mehr so weit her ist mit ihrem Bescheidwissen. Vielleicht bleiben sie dann so klug wie Martin Sonneborn in seiner Heimatkunde, haben aber dafür den Leser prächtig amüsiert.

Torsten Körner
Geschichten aus dem Speisewagen
Unterwegs in Deutschland
Scherz 2010

In vielen dieser Bücher über Deutschland gibt es kleine Beobachtungen aus dem Alltag. Aber immer nur zur Illustration und Veranschaulichung. Solche Autoren sehen in der Welt nur das, was ihre Überzeugungen stützt. Bei Torsten Körners Geschichten aus dem Speisewagen gibt es solche vorgefassten Überzeugungen nicht, aber einige kluge Überlegungen, die den Beobachtungen folgen.

Moritz von Uslar
Deutschboden
Eine teilnehmende Beobachtung
Kiepenheuer & Witsch 2010

Völlig undenkbar ist für diese Leute, die ihre Deutschlandbücher schreiben und zumeist einer Partei, einer Kirche oder einem Wirtschaftinstitut angehören, einige Wochen oder Monate in dem Umfeld zu verbringen, über das sie in ihren Büchern so messerscharf urteilen. Es mag überhaupt nicht ausgemacht sein, dass solche teilnehmenden Beobachtungen ihre Urteile änderten, aber sie werden schwieriger, vielleicht auch nur maßvoller, wie in Moritz von Uslars Deutschboden.

Armin Nassehi
Mit dem Taxi durch die Gesellschaft
Soziologische Storys
Murmann 2010

Die Beschreibung der Gesellschaft ist ihre Selbstbeschreibung, meint Armin Nassehi, insofern sie plausibel gefunden wird. Wo sich niemand anschließt, bleibt die Beschreibung als Ladenhüter liegen. Dort findet sich dann eine Gesellschaft, in der wir entweder nicht leben oder nicht leben wollen. Die kauft uns dann keiner ab. Wer unter Menschen geht, zumal unter die, über die er schreibt, muss ihnen schon hundert Euro rüberschieben, damit sie so sind, wie er sie medial verwerten kann. Wer das nicht will, lernt wie Armin Nassehi schreibt, dass „unterschiedliche Kontexte auch unterschiedliche Welten hervorbringen“.

Welten, die Martin Sonneborn rund um Berlin, Torsten Körner im Speisewagen, Armin Nassehi im Taxi und Moritz von Uslar im deutschen Osten kennenlernen. Welten, die zeigen, wer unter Menschen geht, wird selber einer.