// 2016

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Ortsbegehung Frankreich

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Tanja Kuchenbecker
Marine Le Pen
Tochter des Teufels
Vom Aufstieg einer gefährlichen Frau und dem Rechtsruck in Europa
Herder 2017

Die erste schlüssige Analyse der rechten Wähler aus der alten Arbeiterschaft legte Didier Eribon in seinem Buch Rückkehr nach Reims in einer Art Ortsbegehung vor. Eribon schildert in diesem Buch sein Zerwürfnis mit der Herkunftsfamilie, die seinem Coming out und seiner wissenschaftlichen Karriere hilf- und ratlos gegenüber steht. Nach Jahren des Schweigens und Fremdwerdens kehrt er zurück. Den Soziologen und Rückkehrer Eribon frappiert, dass in seinem Herkunfsmilieu, das einmal durch und durch kommunistisch war, nun der Front National gewählt wird.

Nach Eribons fast dramatisch anmutender Anaylse – insofern sich hier der Soziologe Eribon auf eine einzigartige Art und Weise selbst beschreibt – geht dem Rechtsruck eine über Jahrzehnte andauernde Liberalisierung von Wirtschaft und Sexualität voraus. In der neuen Konsumkultur sind Geld und Geschlecht nur verschiedene, aber vorgeblich jederzeit und vor allem jedem mögliche Wege der Individualisierung. Dass dies auf Kosten der sozialen Sicherung geschehen sei, ist zwar faktisch nicht ausgemacht, wird aber unzweifelhaft so wahrgenommen.

7252Das war der Grund, weshalb sich im Rahmen einer wie von selbst ablaufenden Neuverteilung der politischen Karten große Teile der Unterprivilegierten jener Partei zuwandte, die sich nunmehr als einzige um sie zu kümmern schien und die zumindest einen Diskurs anbot, der versuchte, ihrer Lebensrealität wieder einen Sinn zu verleihen. (…) Meine Mutter gab schließlich, nachdem sie es lange verleugnet hatte, zu, schon einmal den Front National gewählt zu haben.

Èdouard Louis hat eine ganz ähnliche Entwicklung wie Eribon in seinem Buch Das Ende von Eddy beschrieben, ein Buch, das 2014 auf Deutsch erschien und Didier Eribon gewidmet ist. Die vertrackte Pointe aber fehlt ihm, dass die Geschlechtspolitik in den Sog der wirtschaftsliberalen Individualisierung geriet. Schließlich sorgte die digitale Neugründung für die Auflösung der alten Verbände und Stämme. Mit diesen Stämmen lösten sich nicht allein die homophoben Stammtische auf, sondern auch die linken Stammwähler verliefen sich.

Wohin sie gehen, ist bekannt. In ihrem Buch beschreibt Tanja Kuchenbecker den 1972 von Jean-Marie Le Pen gegründeten Front National, der die Kränkung des Niedergangs der Kolonialmacht Frankreich in rechtsradikale Parteipolitik verwandelte. Das Verlangen nach alter Größe blieb im Zuge wirtschaftlicher Erfolge überschaubar und historisch abgetan. In Le Pens Partei überdauerte es jedoch wie ein Kassiber.

2002 schließlich kam Le Pen bei der Präsidentenwahl auf immerhin 17 Prozent Stimmenanteil. Die Versuche der Verwandlung des Front National zu einer ganz normalen Partei durch Marine Le Pen erzählt nun Tanja Kuchenbecker. Und im Schlußkapitel betrachtet sie die internationale Rechtsfront, ihre Allianzen und Unterschiede von der AfD, FPÖ bis FIDESZ.

Didier Eribon
Rückkehr nach Reims
Suhrkamp 2016

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Wagnis und Verantwortung

27220486_9783958901179_xlKonrad Heiden
Adolf Hitler
Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit
Ein Mann gegen Europa
Europa 2016

Auf dem Grabstein von Konrad Heiden steht das Epitaph: Writer, Foe of Nazis. Heiden wurde 1901 in München geboren und starb 1966 in New York. Dass ein Buch von Stefan Aust – der Heiden übrigens auch die Erfindung des Kürzels Nazis zuschreibt – an ihn erinnert, hat vielleicht auch mit der Tatsache zu tun, dass es wieder notwendig wird, über das Selbstverständnis des Journalismus und die Verantwortung des Journalisten nachzudenken.

Dafür ist Konrad Heiden als Journalist und sind seine Bücher als Werke der Hochzeit des Journalismus großartige Beispiele. 1932 erschien mit „Die Geschichte des Nationalsozialismus – Die Karriere einer Idee“ Heidens erstes Buch bei Rowohlt. Ein weiteres beschäftigte sich mit dem Aufbau des Nationalsozialismus. Es wurde bereits in der Emigration in Emil Oprechts Europa Verlag in Zürich publiziert.

1936 erschienen dann im Europa Verlag „Adolf Hitler – Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit“ und im Jahr darauf als zweiter Band „Adolf Hitler – Ein Mann gegen Europa“. Beide Bücher sind nun in einem Band zusammengefasst in einer Neuausgabe herausgekommen. Es sind diese Bücher, die den Verleger Lars Schultze-Kossak bewogen haben, den Europa Verlag am Leben zu erhalten.

Konrad Heiden trägt in beiden Büchern eine Unmenge Material über Hitler und den Nationalssozialismus zusammen, bereitet es erzählerisch auf und setzt gleich mit dem ersten Satz den Maßstab: Dieses Buch verdankt seine Entstehung dem Bedürfnis auszusprechen, was ist. Der schäumenden Schreierei der Nazis setzt er seinen klaren Lapidarstil entgegen. Schultze-Kossak vermutet in einer Einleitung zu dieser Neuausgabe denn auch, dass es sein jounalistischer Stil und seine formal unwissenschaftliche Herangehensweise seien, die dazu führten, dass Konrad Heiden von den Historikern unbeachtet blieb.

Es mag der Forschung im Jahre 1937 zu einem abschließenden Urteil über Hitler zu früh gewesen sein, zumal auch der Weg in die Archive mit Gefahr verbunden war. Heiden ging dieses Wagnis eines Urteils ein – die Schweiz war durchaus kein sicherer Ort –  und ihn interessierte an Hitler schon damals einfach alles. Vielleicht ist das Journalismus?

Heiden erwehrte sich dabei auch des Vorwurfs der Aufwertung Hitlers durch eine geschlossene Gesamtdarstellung. Alfred Kerr reimte hämisch gegen Heiden: So, wenn er ihm gehorsam huldigt, / ist auch das deutsche Volk entschuldigt. Heiden aber sah das Problem durchaus und schreibt in der Einleitung: Objektivität ist nicht Standpunktlosigkeit. Der „Held“ dieses Buches ist weder Übermensch, noch ein Popanz, sondern ein sehr interessanter Zeitgenosse (…). Es gibt in der Geschichte den Begriff der wertlosen Größe. Sie drückt oft tiefe Spuren in die Menschheit, aber es sind keine Furchen, aus denen Saat aufgeht.

23314274_23314274_xl Vielleicht fehlte den Hitler-Gegnern bei Konrad Heiden die vollständige Ablehnung, die absolute Verachtung, eine Haltung, die alles und jedes, das man im nationalsozialistischen Deutschland zurückließ, verdammte. Konrad Heiden macht sich dem Gegner aber nicht ähnlich. Vielleicht ist das der Journalist? Er trägt im Zeitalter der Verantwortungslosigkeit Verantwortung.

An einer Stelle schreibt Heiden: Hitler sagte: „Ich trage restlos die Verantwortung für alles, was in der Bewegung vorfällt.“ Er trägt sie aber nicht, denn niemand kann ihn zur Verantwortung ziehen. Er hat nur seinen Anhängern die Verantwortung abgenommen und sie weggeworfen.

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Das erste deutsche Sachbuch

26052856_9783847700180_xlGeorg Forster
Ansichten vom Niederrhein von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790
Die Andere Bibliothek 2016

„Forster“, so Jürgen Goldstein im Vorwort, „wendet auf die europäischen Staaten jenen kultur- und politikwissenschaftlichen sowie ethnologischen Blick an, den er während seiner Weltumsegelung ausgebildet und anhand exotischer Völker erprobt hat.“ Er sieht die uns selbstverständliche Umgebung mit den Augen, die einen Pinguin oder die Araukarie erstmals zu erkennen, zu erfassen und auschaulich zu beschreiben suchten. Längst ist uns der Pinguin aus dem Zoo vertraut und die Araukarie, ein aus Chile stammender exotischer Modebaum der 1960er Jahre, steht in vielen Vorgärten.

Aus seinen Briefen zum Buchprojekt geht hervor, dass Forster hier nicht allein, worauf Goldstein hinweist, eine Beschreibung der neuen, der revolutionären Zeit im Grenzbereich zu Frankreich zu schreiben unternahm, sondern dass er sich bewusst war, mit den Ansichten einen neuen Typ Buch zu publizieren. Es spricht viel dafür, dass es sich um einen Buchtyp handeln könnte, den man heute vielleicht als Sachbuch bezeichnet.

Dafür spricht zunächst, dass Forster in jedem Fall gelesen werden wollte, darum wählte er den „Briefton“, der von Seume und Börne bis hin zu van Ense und Fürst Pückler von Bedeutung für populäres Schreiben kennzeichnend bleiben sollte. Außerdem versprach er sich von dem Projekt erheblichen Erfolg und einige Einkünfte, die leider ausblieben.

Als Autor entspricht Forster ja ohnehin weniger dem Gelehrten als dem weitläufig gebildeten Intellektuellen, einem ebenso naturwissenschaftlich wie politisch gebildeten Kopf, der vom Schreiben zu leben versuchte. Verwirklicht wurde diese Lebensform in den deutschen Ländern allerdings erst einige Jahrzehnte später, vielleicht zu Beginn des Biedermeier, als Publizistik und beginnende Industrialisierung Autoren ein Auskommen bieten konnten.

Der umständliche Titel allerdings diente der Tarnung als „Expeditionsbericht“ (Goldstein), um an der Aufmerksamkeit der für revolutionäre Umtriebe zuständigen politischen Polizei vorbei, den Lesern „den politischen Wandel Europas“ vor Augen zu führen. Die Besetzung der Rheinlande durch die Armeen der Revolution und Forsters Engagement in der Mainzer Republik ließen das auf drei Bände berechnete Projekt, von dem zwei erschienen, als überholt erscheinen. So blieb es unvollendet.

Nur wenige Jahre nach Forsters Tod beschrieb Friedrich Schlegel den Autor der Ansichten als einen „gesellschaftlichen Schriftsteller“, womit er gewiss auch den Blick Forsters für das soziale Gefüge meinte, in der die Menschen, die Forster in den Ansichten schildert, arbeiten, essen, schlafen und hoffen. Forster gelingt es, die Selbstverständlichkeit, in der sie und mit der sie leben, wie mit fremden Augen zu sehen und zu befragen.

Und auch kann man die Ansichten das erste deutsche Sachbuch nennen, weil es, wie das Sachbuch generell, im Grunde kein Thema flieht, kein Thema des Interesses der Beschreibung für unwürdig ansieht.