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Bewegung und Beharren

Peter Hessler
Über Land. Begegnungen im neuen China
Berlin Verlag 2009

Ich weiß nicht, ob es im Lexikon der populären Irrtümer steht, aber die Chinesische Mauer ist nicht vom Mond aus zu sehen. Aber von Frankfurter Messe 2009 aus, da war sie zu sehen und mit ihr zusammen der Mummenschanz, der eher einer Tourismusmesse angestanden hätte, als einer Buchmesse.

Solche Reportagen aber wie Peter Hessler sie hier geschrieben hat, sind eigentlich, wenn es das gäbe, Langzeitreportagen. Ein Widerspruch in sich, wollen Reporter doch eher schnell fertig werden. Hessler ist Peking-Korrespondent des New Yorker und er hat den langen Atem für eine große Erzählung gereifter Erfahrungen. Ein großes Lesevergnügen.

Im ersten Teil seines Buchs folgt er dem Verlauf der Mauer. Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht ein Dorf, in das er jahrelang pendelt. Auf die Reise folgt der Stillstand. Auf die Beobachtung eines Landes in Bewegung – und zwar mit dem Auto – die Beobachtung des Beharrens, der Tradition. Im dritten Teil schildert er den Aufbau einer Fabrik, in der sich die beiden ersten Teile, der Widerspruch von Bewegung und Beharren, spiegelt. Was produziert diese Fabrik? Etwas sehr Eigentümliches. Sie produziert nichts als Ringe. Und zwar speziell die Ringe, mit deren Hilfe die Träger eines BH verstellt werden können.

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Die überwältigende Geschichte

Orlando Figes,
Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland.
Berlin 2008

Vor über 20 Jahren erschien von Anatoli Rybakow der auch heute noch beeindruckende Roman Die Kinder vom Arbat. Der Erfolg dieses Romans, wie vielleicht überhaupt der fiktionalen Erzählliteratur, hängt vermutlich auch damit zusammen, dass die Historiker sich vor allem der Politik, der Ideologie, dem Kollektiv gewidmet haben, und daher das Einzelschicksal, an dem man erst wirklich begreift, was vor sich geht in Russland, in fiktionaler Literatur geschildert wird. Der ungeheure innere Monolog Stalins am Ende von Rybakows Zyklus, dem auch unbewältigte Einarbeitung historischen Materials vorgeworfen wurde, kommt auf die überindividuellen Themen der professionellen Historiker zurück. Da im kommunistischen Russland die Soziologie verboten war, hielt man sich weiterhin an die Romane, die in Frankreich in den großen Zyklen von Zola und Balzac einmal die Vorläufer der neu entstehenden Wissenschaft Soziologie bildeten.
Mit Orlando Figes Buch ist nun auch die professionelle Geschichte, Kempowskis kollektivem Tagebuch vergleichbar, wieder dorthin zurückgekehrt, wo sie bewältigt werden muss, bei den einzelnen Menschen. Die Familien Simonow und Laskin, Buschujew und Golowin, Fursej-German und Golownja-Babizki, Konstantinow und Nisowzew-Karpizkaja, Slawin und Delibasch-Liberman werden in diesem Buch in ihren Schicksalen, Meinungen und Handlungen geschildert, als Objekte der Politik und Ideologie und schließlich eines Kollektivs, das sie alle auch überwältigt.

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Der Familienkünstler

Susanne Kippenberger
Kippenberger. Der Künstler und seine Familien
Berlin 2007

Von Hugo von Hofmannsthal stammt der Satz: „Das Schöne ist ohne Scham undenkbar.“ Da wird man sich den Künstler Martin Kippenberger nur noch als Beweis und Gegenbeweis zugleich vorstellen können. Martin Kippenbergers Kunst war manchmal so verständlich und witzig, dass sie für Schlagzeilen im Kölner Express taugte und war doch zugleich so rätselhaft oder zumindest peinlich, dass sie auch intellektuellen Ansprüchen genügen konnte. » weiter lesen