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Flitzepee


Bettina Hartz
Auf dem Rad
Eine Frage der Haltung
DVA 2012

Bettina Hartz hat über das Fahrrad gleich mehrere Bücher geschrieben, Reportage, Ratgeber und Kulturgeschichte. In den Erinnerungen und Erlebnissen mit dem Fahrrad gelingen Bettina Hartz schöne Betrachtungen und Wirkungen. All dies so kurzweilig wie ein Weg, den man gern mit dem Fahrrad zurücklegt. Vor allem so genau und in einem Tempo zu genießen, welches das Radfahren vom Autofahren unterscheidet. Ein Frischluftvergnügen. Auch als Buch, bei dem allerdings Kopf- und Fußsteg so schmal geraten sind, als parke der Buchgestalter ganz gern mal auf dem Radweg.

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Lesefrüchte für Millionen

Thilo Sarrazin
Deutschland schafft sich ab
DVA 2010

Im Mai 2008 wurden unter dem Titel „Verstehen und verschleiern“ einige Bücher zum Thema vorgestellt. Zu diesen hier.

Zu den aktuellen Kulturkämpfen gab es einen historischen Rückblick unter dem Titel „Hassprediger und Hetzkaplan“. Zu diesen neuen und alten Sozialfiguren hier.

Muss man von den Büchern, die man nicht gelesen hat, schweigen? Sicherlich nicht. Denn Rezensionen, Kommentare und Berichte sind Quellen, die über den Inhalt eines Buches Auskunft geben können. Wenn der Autor selbst sich ausführlich zu seinem Buch äußert, liegt ebenfalls eine gute Quelle vor, die über den Inhalt des Buches informiert. Darüber hinaus geben öffentliche Auftritte Aufschlüsse über die Persönlichkeit des Autors, seinen Argumentationsstil und den Kern seines Textes. So ausgestattet, lassen sich auch von Nichtlesern durchaus legitime Stellungenahmen formulieren, die nicht bloß dadurch, dass sie das Objekt der Betrachtung nicht selbst in die Hand genommen haben, ungültig oder unrichtig sein müssen.

Umgekehrt ist die Klage des Autors, dass man, bevor man urteile, doch sein Buch erst einmal lesen solle, nicht ganz unberechtigt. Wer sich zu einem Buch öffentlich abschließend äußert, muss es gelesen haben.

Leser in der Warteschleife

Und doch führt der Verweis des Autoren auf ein vertracktes Problem. Was, wenn ich urteile und der Autor mich annuschelt, ich hätte das Buch nicht richtig verstanden oder richtig gelesen. Oder er behauptet, ich redete nur vom ersten Kapitel, auf das es gar nicht ankäme, nicht aber über das zentrale letzte? Was, wenn der Autor mir mitteilt, ich verstünde nichts von Wissenschaft, hätte daher auch die Bedeutung des gebotenen Zahlenmaterials falsch oder gar nicht verstanden, müsse sein Buch einfach nochmals lesen und die angegebene Literatur ebenso?

Was, wenn der Autor uns mitteilt, wir müssten erst einmal selbst etwas leisten und eine Lehrerin heiraten und uns eine Brille wachsen lassen und uns einen Schäuzer kaufen und fünfundsechzig Jahre alt werden? Der Habitus derjenigen, die – wie erzählt wird – in den Buchhandlungen nach dem Buch mit dem vermeintlich unrichtigen Titel „Türken raus“ fragen, stimmt damit fast überein.

Das Buch und sein Autor

Man muss allerdings auch feststellen, dass es sich bei dem oben abgebildeten Buch um eines handelt, das ohne die öffentlichen Auftritte des Autoren nur als Buch funktionieren müsste. Die Frage, ob dieses Buch ohne seinen Autor irgendwelche Bedeutung hat, ist im Augenblick nicht zu beantworten. Der Autor steht mehr zur Debatte als sein Buch. In der Diskussion ist diese Nuschelmaske mit Brille und Schnäuzer. Ob je diese vom Autor erzeugten Bilder zugunsten des Textes zurücktreten werden, bleibt höchst fraglich.

Man müsste dem Autor wohl auch beibringen, dass auch er nur der Leser von Texten sei. Dass auch er nur ein Verständnis von Texten wiederzugeben versuche, welches nicht schon allein dadurch, dass er es vom Kontext der Wissenschaft in den der Politik verfrachte, zu akzeptieren sei.

Man müsste ihm mitteilen, dass es sich bei seinem Buch um einen Text und nicht die Wirklichkeit selbst handele. Allein der Dilettant liebt die steilen Thesen, allein er glaubt an den scharf an der Wirklichkeit sich gebenden Text.

Lesefrüchte für Millionen

Es gehört zu den typischen Kennzeichen des erfahrungsarmen Dilettanten, dass er seine Lesefrüchte, sein Zeitschriften- und Bücherwissen nicht in den Diskurs der Wissenschaften einspeist und damit zur Diskussion stellt. Interessant ist auch, dass hier ein Autor in die Naturwissenschaft wechselt, der von der Wirtschaftswissenschaft kommt, deren grandioses Scheitern als Wissenschaft er erkennen und miterleben musste. Nun macht er sich im Labor einer anderen Wissenschaft fett und tritt dann – den Systemwechsel wie ein Hintertürchen nutzend – mit seinen Erkenntnissen, die im Lichte undiskutierbarer Naturgesetzte erscheinen, auf den Marktplatz.

Dass er das Labor nur besucht hat, seine vorher gefassten Überzeugungen zu belegen, widerlegt ihn wissenschaftlich und macht ihn publizistisch um so erfolgreicher. Endlich muss man nicht mehr diskutieren. Endlich hat die Wissenschaft festgestellt. Endlich unpolitische Politik. Endlich keine Texte mehr. Endlich Nichtleser.

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Das Führerprinzip und die Laisierung der natürlichen Experten

Miriam Gebhardt
Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen
Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert
DVA 2009

Wenngleich der globale Untertitel dem Buch nicht gerecht wird, ist es doch ein herrliches Gegengift. Wodurch? Durch die Geschichte. Wenn die Geschichte der Erziehung als die Geschichte der Kinder als Tyrannen erzählt wird, dann ist die relativierende Wirkung auf feste Überzeugungen enorm, denn Geschichte impliziert Veränderung. Als kulturelle Konstruktion kann aber eine Wesensbestimmung des Kindes als kleiner Tyrann nicht aufrecht erhalten werden. Wer das Erfolgsbuch von Michael Winterhoff getitelt hat, kennt vielleicht auch diese alte Konstruktion und ihre Bedeutung für die Geschichte der Erziehung in Deutschland. Was Winterhoff dann jedoch schreibt und zwar über die Erziehungskompetenz der Eltern, verschwindet hinter diesem Bild vom Kind als ugly doll fast vollständig.

Ratgeber leben immer schon auch ein wenig vom Defizit beim Leser, vom Defizit an Geschichte einerseits und an Informationen andererseits. Wenn das nicht reicht, werden die Defizite von den Experten eben massiv herbeigeredet. Nachzulesen in Johanna Haarers Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind von 1934, einem Buch wie ein Polizeigriff. Nicht nur wird der intutive Zugang der Eltern zum Kind durch die Behauptung der prinzipiellen Hilflosigkeit der Eltern geleugnet. Auch die Erfahrungen der
Großeltern werden von den Expertinnen wie Hildegard Hetzter und Johanna Haarer zur Gefahr für die Erziehung des Kindes erklärt. Diese damaligen Großeltern sind allerdings weitaus weniger Opfer der schwarzen Pädagogik, als angenommen. Woher Miriam Gebhardt das weiß? Sie zieht in großem Umfang Tagebücher heran, die Eltern für und über ihre Kinder geschrieben haben. Auch dies eine neue und erfolgreiche Version der oral history oder die Installierung von Kempowskis Echolot im Kinderzimmer. Zur Paradoxie des Tyrannen in Windeln, den es um jeden Preis zu verhindern galt, und dem an der Wand im Wohnzimmer und Amtsstuben, der sich bis in die Kinder-Tagebücher verfolgen lässt, findet man bei Miriam Gebhardt allerdings nichts.

Bis in einzele Äußerungen lässt Miriam Gebhardt erkennen, wie sehr die Expertenempfehlung, sich zum Kind in aseptischer Distanz zu halten, sich vor die unmittelbare Wahrnehmung der Eltern schiebt und der erste Impuls, das Kind aufzunehmen, unterdrückt wird. Dabei bleibt sie aber nicht stehen, sondern konstatiert eine komplexe Entwicklung: „Wenn heute konservative Warner die angebliche ‚Erziehungskatastrophe‘ den ’68ern‘ und/oder der sich aufwerfenden Ratgeberflut anlasten wollen, irren sie. Die Orientierung an der Expertise ist ein historisch gewachsenes Phänomen seit dem 19. Jahrhundert (…). Seither verbinden die informierten Schichten mit der expertengeleiteten Lebensführung den Anspruch, ‚richtig‘ zu handeln, setzen sich von anderen Gesellschaftsschichten ab und bevormunden sie auf der Grundlage ihres aktuellen Wissens.“

Wenn Michael Winterhoff es zulässt, dass man seine Symbiosethese der Eltern-Kind-Beziehung auf die alte Tyrannenthese reduziert und er also als Wiedergänger von Jirina Prekops Der kleine Tyrann von 1988 erscheint, kann man dies nur auf seine Unkenntnis der historisch fundierten Plausibilitätskriterien seiner Leser zurück führen. Mit Prekop ging man damals schon wieder in den pädagogischen Schützengraben. Und Winterhoff lässt sich vom Verlag den Patronengürtel umschnallen. Und was machen die informierten Schichten? Sie kaufen, laden nach und bevormunden.


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