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Finde ich das Glück beziehungsweise?

Es ist Samstag Abend, Köln Hauptbahnhof, zwar ist nicht Karneval, aber trotzdem sieht man mehrere Gruppen verkleideter Menschen durch den Bahnhof streunen. Meistens alle im gleichen T-Shirt. Oft mit einem Foto bedruckt und einen schwachsinnigen Spruch wie „Guidos letzter Tag in Freiheit“. Was Guido droht ist nicht Haft, sondern die Ehe. Es ist ein Junggesellenabschied. Vielleicht begann auch diese Beziehungsgeschichte von Guido bei neu.de oder Facebook. Nun, Guido ist entschieden und löst das Dilemma des Sokrates – „Heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen“ – durch eine Entscheidung.

Findet mich das Glück? Und passen wir überhaupt zusammen?

Für Frauen bleibt mit der Heirat allerdings die Frage der Fragen für die Suche nach dem perfekten Leben ungelöst: Wann werde ich schwanger? Dann aber noch: Werde ich überhaupt Kinder bekommen können? Gegenüber einem männlichen Dilemma sind die Möglichkeiten der Selbstfrustration unter Frauen doch erheblich vielgestaltiger. Und sie werden, wenn man Florentine Fritzen glauben darf, fast alle genutzt.

Ein Mann lebt seit drei Jahren mit einer Frau zusammen. Sie haben sich tatsächlich über eine Internetseite kennen gelernt. Irgendwann fällt der Frau ein, dass noch ihr Profil im Internet steht, mit dem sie sich auf Partnersuche begeben hat. Mit Fotos. Reisebilder aus Vietnam. Jetzt hat sie das Gefühl, dass zwischen den Bildern und ihr ein ungeheurer Abstand herrscht. Sie sucht nach seinem Profil und findet es mit einem kleinen blinkenden Sendemast! Als er nach Hause kommt, sagt sie: „Du hast weiter gesucht.“ Er leugnet nicht, behauptet aber, sich nie mit jemanden verabredet zu haben. Die Nachrichten, die er erhielt, habe er nie beantwortet. „Du warst die ganze Zeit über an einem anderen Ort“, sagt sie, „in einer anderen Zeit. Ich bin ein Versuch für dich gewesen, nicht einmal das, ein Provisorium. Du hast dich in meiner Liebe, in unserem Leben aufgehalten wie in einem Wartezimmer.“

Ist es tatsächlich so, wie Mark Zuckerberg, der Gründer von facebook, irgendwo behauptet, dass sich die sozialen Gewohnheiten dem anpassen, was technologisch möglich ist? Werden uns Castingshows, twitter, StudiVZ und facebook so verändern, dass jegliches Schamgefühl verloren geht. So warnt jedenfalls Simons uns, aber besteht diese Gefahr wirklich? Oder drückt sich darin nur Gefühlskultur der Mittelschicht aus, mit ihrer eindringlicher Selbstprüfung und Reflexivität. Soziale Stellung und Seelenhaushalt entsprechen einander und Gefühle werden zu sozialen Ressourcen konvertiert. Zum Beispiel zu der, anders zu sein, ein Buch, wie das von Simons geschrieben zu haben. „Das Gesindel lebt sich aus und wir entbehren“, schreibt Sigmund Freud in einem Brautbrief.

Mit John Stuart Mill kann man diese Beispiele so kommentieren: „Lieber ein unglücklicher Sokrates als ein glückliches Schwein“. Bei Guido – Sie erinnern sich, der vom Bahnhof – wird aus der Episode eine Erzählung, bei der der Junggesellenabschied von untergeordneter Bedeutung sein wird. Das geschmacklose T-Shirt endet vermutlich als Polierlappen der Chromteile seines Motorrads. Bei dem zweiten Beispiel von Hillenkamp gelingt die gemeinsame Geschichte nur scheinbar, denn er sucht die alte Intensität für seine Affekte und Begierden zu erhalten. Zu Recht vielleicht, denn schließlich leben wir ja in Zeiten, in denen die Selbsterhaltung relativ gesichert ist. Hampe schreibt: „Menschen möchten in einzelnen Lebenssituationen möglichst intensive positive Gefühle empfinden, aber sie wollen auch, dass ihr Leben einen Zusammenhang ergibt, den man wie eine gut erzählte Geschichte nachvollziehen kann, und es nicht einfach in einzelne Episoden zerfällt.“ Dieses Verhalten ist nicht ganz so neu.

Im ersten Akt von Don Giovanni prahlt Leporello, sein Herr habe allein in Spanien über 1000 Frauen verführt und sagt, damit es glaubwürdiger wirkt die genaue Zahl: 1003. Das ist ein nur mittelmäßiger Durchschnitt meinen die Ornithologen. Verteilt man Don Giovannis Aktivität auf dreissig Jahre, verführte er nur alle elf Tage eine Frau. Da sind die Trauerschnäpper mit ihrer Praxis der APK, der „Außer-Paar-Kopulation“ effektiver. Die Männchen verlassen kurzfristig die Beziehung und machen durchschnittlich alle 25 Minuten den Versuch einer APK, aber alle elf Minuten schleicht sich ein anderes Männchen mit der gleichen Absicht in ihr Revier. So ist fast jeder vierte Trauerschnäpper illegitim.

Die Episodenhaftigkeit der Beziehungen, die Jared Diamond bei den Trauerschnäppern darstellt, die Hillenkamp konstatiert und Simons beklagt, hat ja unter Umständen auch etwas für sich. Michael Hampe schreibt: „Die Fähigkeit zu beobachten, die ganze Aufmerksamkeit auf das, was gerade geschieht, richten zu können, ohne es als etwas zu nehmen, das für anderes als es selbst steht, diese Beobachtungsfähigkeit ist die Grundlage für eine Lebenseinstellung, die zu einem glücklichen Leben führt.“ Kann sein, dass diese Einsicht dann an Boden verliert, wenn man auf dem Beziehungsmarkt zunehmend erfolgloser wird. Die Zuschreibung der Verantwortung für seine Form und sein Aussehen, trägt man mit zunehmenden Alter immer schwerer. Kann sein, dass Guido froh ist, auf diese Weise vom Markt genommen zu werden. Der Merksatz für diejenigen, die nicht Guidos Schicksal haben, lautet: Ihr sollt nicht leben, sondern euer Leben einteilen und zwar, meint Sloterdijk als Überbietungsdenker, in Trainingseinheiten. Das Ich ist ein Projekt und der jeweilige Ichinhaber ist Abend für Abend sein Unternehmer. Die Fälle von Selbstkonkursverwaltung nehmen allerdings zu.

Jared Diamond
Warum macht Sex Spaß?
S. Fischer 2009

Florentine Fritzen
Plus minus 30
Artemis & Winkler 2009

Michael Hampe
Das vollkommene Leben
Hanser 2009

Sven Hillenkamp
Das Ende der Liebe
Klett Cotta 2009

Martin Simons
Vom Zauber des Privaten
Campus 2009

Peter Sloterdijk
Du mußt dein Leben ändern
Suhrkamp 2009

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Die besten deutschsprachigen Sachbücher des Jahres 2008

Ralf-Peter Märtin, Die Varus-Schlacht (S. Fischer)

in der Kategorie erzählendes Sachbuch, Geschichte

Erstaunlich, was Märtin aus einigen rostigen Kupfermünzen, die irgendwo südlich von Osnabrück im Jahre 9 im Schlachtgetümmel verloren gegangen sind, macht.

Markus Bennemann, Im Fadenkreuz des Schützenfischs (Eichborn)

in der Kategorie erzählendes Sachbuch, Naturwissenschaft

Ein Buch, das in allen Teilen gut unterhält, weil es gut erzählt ist. Nebenbei: ein großartiges Buch über Tiere, das Markus Bennemann da gelungen ist.

Henrik Müller, Die sieben Knappheiten (Campus)

in der Kategorie erzählendes Sachbuch, Zeitgeschichte

Die Grundidee des Buches, unsere Gegenwart einmal nicht nach den politischen Blöcken aufzuteilen und ebenso wenig im Strudel der Globalisierung alles gleichgültig werden zu lassen, sondern nach der Liste der knappen Ressourcen darzustellen, ist bestechend und ersetzt zahlreiche Einzelveröffentlichungen.

Maja Nielsen: Jane Goodall und Dian Fossey (Gerstenberg)

in der Kategorie Jugendsachbuch

Ein wunderbares Sachbuch über Jane Godall und Dian Fossey von Maja Nielsen. Nicht nur, aber ideal für Mädchen.


Christiane Hoffmann, Hinter den Schleiern Irans (Dumont)

in der Kategorie Reportage

Klar, wahr und schön erzählt Christiane Hoffmann in ihrem Buch, jenseits der zahllosen Debattenbücher, die viele Meinungen aber keine Anschauungen enthalten.

Julia Friedrichs, Gestatten Elite (Hoffmann und Campe)

in der Kategorie Thesenbuch

Bildungs- und Elitendiskussion in gut geschriebenen Reportagen von Julia Friedrichs geschickt zusammengeführt.


Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Erkenntnis (S. Fischer)

in der Kategorie Biografie

Auch im zweiten Band seiner auf drei Bänden angelegten Biografie ist bei Reiner Stach das Material glänzend in Literatur aufgegangen.


Martin Mosebach, Stadt der wilden Hunde (Hanser)

in der Kategorie Reisebuch

Nirgends lässt sich gemächlicher Konservativismus besser genießen als in Mosebachs Reisebuch, ein Genre, das sich sonst so gern schnell gibt.

Alex Capus, Himmelsstürmer. Zwölf Portraits (Knaus)

in der Kategorie kurze Prosa

Nicht der besondere Stoff macht dieses Buch aus, sondern die Sprache. Und die macht dann was daraus. So wie bei Alex Capus sollte es immer sein.

Kathrin Passig, Sascha Lobo: Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin (Rowohlt)

in der Kategorie Ratgeber

Der Ratgeber, der arme Hund des Sachbuchs, wird hier von der Literatur rechts überholt.

Jury: Michael Schikowski

Zu den besten deutschsprachigen Sachbüchern des Jahres 2014, des Jahres 2013, des Jahres 2012, des Jahres 2011, des Jahres 2010, des Jahres 2009 .

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Frisierte Lackaffen

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Joachim Bauer
Das kooperative Gen
Hoffmann und Campe 2008

Dieter Hattrup
Darwins Zufall oder wie Gott die Welt erschuf
Herder 2008

Frans de Waal
Primaten und Philosophen
Hanser 2008

Ich hatte vor einiger Zeit das zweifelhafte Vergnügen, mit jemanden in eine Diskussion zu geraten, der sich offensichtlich an dem Buch von Richard Dawkins Das egoistische Gen überfressen hatte und in aller Welt nur die Durchsetzungskraft der Gene behauptete und wahrnahm. Das war ungemütlich, denn mein Gegenüber war nicht bereit, darin die alte Tautologie zu erkennen: der Tüchtigste überlebt und wer überlebt ist der Tüchtigste. Nun von Dawkins reformuliert: die vererbten Gene sind die Gene, die egoistisch sind und die egoistischen Gene sind die, die vererbt werden. Das mit den Genen wird da ja irgendwie als substanzielle auf nichts anderes selbst rückführbare Wahrheit genommen und gewinnt dadurch etwas fast Religiöses. Schlimmer noch, ich konnte nicht Joachim Bauer, den Autor der hilfreichen Handreichung Das kooperative Gen hinter einem Vorhang hervorziehen und ihn kompetent erklären lassen, dass genetische Informationen nicht nur zwischen Individuen derselben Arten gemischt werden, sondern dass das Erbmaterial auch über die Artgrenzen hinweg erworben werden kann. Ein Genom kann sich selbst verändern. In den Diskussionen, die Sie führen müssen, wissen Sie nun was hilft!

Nach Hattrup hat Darwin mit der Evolutionstheorie den Zufall in die Naturwissenschaft eingeführt, insofern in der Entwicklung der Arten zufällige Varietäten entstehen. Im Wissen aber gibt es nur Gesetz und Notwendigkeit. Den Zufall aber kennzeichnet Nichtwissen. Hattrup ist Physiker, darum geht sein Buch auch auf die Rolle des Zufalls in der Quantenphysik ein. Der Zufall öffnet die geschlossene Welt der Notwendigkeit einen Spalt breit und lässt das Licht einer anderen Wirklichkeit ein, die die Evolution in Schöpfung zurückverwandelt.

Mit Frans de Waal nähern wir uns gegenwärtigen Auffassungen einer neuen Wissenschaft von der Natur, in der Tier und Mensch als fühlende, sich gegenseitig erfassende Wesen Platz haben. Dieses Erfassen illustriert die Geschichte von Frans de Waal am besten, nach der er ein Bonoboweibchen dabei beobachtete, wie es ein Vögelchen, das hilflos am Boden lag, aufnahm und wieder fliegen ließ. De Waal bezeichnet Konrad Lorenz und Richard Dawkins Ideen als „Fassadentheorie“, nach der Moral nur ein kultureller Lack sei und die Menschen nichts weiter als frisierte Lackaffen. Eine Vorstellung latenter Aggression, die der Hypochonder Nietzsche besonders anschaulich beschrieben hat, indem er den Menschen als auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend definierte. Das ist Literatur. Dagegen stellt der Empiriker de Waal Tatsachen unter den Primaten fest wie reziproken Altruismus und emotionale Ansteckung . Dabei kann er sich auf die Vorarbeit von zwei ganz Großen der Primatenforschung berufen: Jane Goodall und Dian Fossey.