// Hunt

// Bücher

Der Mann, der den Marxismus, und der Mann, der Oliver Twist erfand

Tristram Hunt
Friedrich Engels
Der Mann, der den Marxismus erfand
Propyläen 2012

Manche Bücher muss man ein wenig gegen ihre Autoren verteidigen. Ein wenig auch dieses von Tristram Hunt, dem das Bescheidwissen der historischen Folgen des Marxismus manchmal der Darstellung der durchaus rechtschaffenden Motive von Friedrich Engels im Wege stehen. Rechtschaffendere Motive zumindest als die, die Otto von Bismarck 1878 bei der Durchsetzung der Sozialistengesetze hatte. Die Katastrophe, die sich daraus ableiten lässt, ist die eigentlich schon einmal beschrieben worden? Eines zumindest geht daraus indirekt hervor: dass die SPD bis heute sich als Partei zeigt, die ihre Staatstreue beweisen müsste.

In vielen Büchern von Charles Dickens bildet die Armenfürsorge den historischen Hintergrund. Hier wirkt sich allerdings ein neues, modernes, auf wissenschaftlicher Grundlage ruhendes Gesetz aus. Das alte Armengesetz stammte noch aus der Zeit Shakespeares. Es regelte die Armenversorgung so, dass es die Pflicht der Gemeinde sei, für den Lebensunterhalt der Armen zu sorgen. Kurz vor Erscheinen des legendären Oliver Twist (1837), wurde im Parlament das neue Armengesetz erlassen.

Armenpolitik

Friedrich Engels beschrieb 1845 für die deutschen Leser die Zustände in England: „Alle Unterstützung in Geld oder Lebensmitteln“, schreibt er, „wurde abgeschafft; die einzige Unterstützung, welche gewährt wurde, war die Aufnahme in die überall sofort erbauten Armenhäuser.“ Er erläutert den Deutschen dieses neue Phänomen einer sich entwickelnden Industriegesellschaft. Das Prinzip, unter dem diese Armenhäuser geführt wurden, ist Abschreckung: Arbeitshaus-Uniform, wer das Haus verlassen will, muss um Erlaubnis fragen, Tabak ist verboten, selbst die Annahme von Geschenken von Verwandten außerhalb des Hauses ist verboten. Ein berüchtigter wissenschaftlicher Grundsatz war, dass Kinderreichtum unweigerlich zu Armut führe. Also trennt man Frauen und Männer. Die Arbeit, die dort verrichtet werden muss, ist ermüdend, aber, da der Privatwirtschaft keine Konkurrenz entstehen soll, absolut sinnlos.

Charles Dickens‘ Sozialengagement ist das der Barmherzigkeit, nicht das der Politik. Was aber Analyse in dieser Zeit vermochte, kann man in dem Bestseller Die Lage der arbeitenden Klasse in England von Friedrich Engels lernen. Von Engels wird die erhebliche „moralische“ Entrüstung der Bourgeoisie über die sozialen Missstände als Kompensation entlarvt. Diese wurden ja nicht von Dickens allein angeprangert; Disraeli schrieb Sybil oder die beiden Nationen; Thomas Carlyle Einst und Jetzt, Elisabeth Gaskells Mary Barton. Da man heute nur noch den Twist erinnert, Engels politisch aussortiert hat und die anderen ohnehin vergessen sind, erscheint Charles Dickens als Visionär der aufziehenden Industriegesellschaft. Im Fortsetzungsroman der Zeit nimmt Sentimentalität geradezu Warenform an. Dem Massenelend widmete man sich also auf eine recht zwiespältige Art: Konkret wurde es über Armenhäuser verwaltet, in den Romanen aber wurden die Anklagen und Schuldzuweisungen über unbarmherzig handelnde zuständige Institutionen laut.

Geist und Buchstabe – gegen Buchstabe

Die Analyse, die dagegen Engels in seinem Englandbuch vornimmt, ist einfach großartig: „Die Behandlung, die das neue Gesetz dem Buchstaben nach vorschreibt, steht mit dem ganzen Sinn desselben im Widerspruch; wenn das Gesetz der Sache nach die Armen für Verbrecher, die Armenhäuser für Strafgefängnisse, ihre Bewohner für außer dem Gesetz, außer der Menschheit stehende Gegenstände des Ekels und Abscheus erklärt, so hilft alles Befehlen des Gegenteils gar nichts. In der Praxis wird denn auch der Geist und nicht der Buchstabe des Gesetzes bei der Behandlung der Armen befolgt.“

Wie sehr sich dieser Geist gegen den Buchstaben des Gesetzes durchsetzt – Stichwort Hartz IV – wie sich ein Klima der Diskriminierung bei den ausführenden Organen, auch gegen den besten Sinn eines Gesetzes durchsetzt, zeigt dann übrigens auch wieder Charles Dickens am unerträglich selbstgefälligen Kirchspieldiener Mr. Bumble.