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Lesefrüchte für Millionen

Thilo Sarrazin
Deutschland schafft sich ab
DVA 2010

Im Mai 2008 wurden unter dem Titel „Verstehen und verschleiern“ einige Bücher zum Thema vorgestellt. Zu diesen hier.

Zu den aktuellen Kulturkämpfen gab es einen historischen Rückblick unter dem Titel „Hassprediger und Hetzkaplan“. Zu diesen neuen und alten Sozialfiguren hier.

Muss man von den Büchern, die man nicht gelesen hat, schweigen? Sicherlich nicht. Denn Rezensionen, Kommentare und Berichte sind Quellen, die über den Inhalt eines Buches Auskunft geben können. Wenn der Autor selbst sich ausführlich zu seinem Buch äußert, liegt ebenfalls eine gute Quelle vor, die über den Inhalt des Buches informiert. Darüber hinaus geben öffentliche Auftritte Aufschlüsse über die Persönlichkeit des Autors, seinen Argumentationsstil und den Kern seines Textes. So ausgestattet, lassen sich auch von Nichtlesern durchaus legitime Stellungenahmen formulieren, die nicht bloß dadurch, dass sie das Objekt der Betrachtung nicht selbst in die Hand genommen haben, ungültig oder unrichtig sein müssen.

Umgekehrt ist die Klage des Autors, dass man, bevor man urteile, doch sein Buch erst einmal lesen solle, nicht ganz unberechtigt. Wer sich zu einem Buch öffentlich abschließend äußert, muss es gelesen haben.

Leser in der Warteschleife

Und doch führt der Verweis des Autoren auf ein vertracktes Problem. Was, wenn ich urteile und der Autor mich annuschelt, ich hätte das Buch nicht richtig verstanden oder richtig gelesen. Oder er behauptet, ich redete nur vom ersten Kapitel, auf das es gar nicht ankäme, nicht aber über das zentrale letzte? Was, wenn der Autor mir mitteilt, ich verstünde nichts von Wissenschaft, hätte daher auch die Bedeutung des gebotenen Zahlenmaterials falsch oder gar nicht verstanden, müsse sein Buch einfach nochmals lesen und die angegebene Literatur ebenso?

Was, wenn der Autor uns mitteilt, wir müssten erst einmal selbst etwas leisten und eine Lehrerin heiraten und uns eine Brille wachsen lassen und uns einen Schäuzer kaufen und fünfundsechzig Jahre alt werden? Der Habitus derjenigen, die – wie erzählt wird – in den Buchhandlungen nach dem Buch mit dem vermeintlich unrichtigen Titel „Türken raus“ fragen, stimmt damit fast überein.

Das Buch und sein Autor

Man muss allerdings auch feststellen, dass es sich bei dem oben abgebildeten Buch um eines handelt, das ohne die öffentlichen Auftritte des Autoren nur als Buch funktionieren müsste. Die Frage, ob dieses Buch ohne seinen Autor irgendwelche Bedeutung hat, ist im Augenblick nicht zu beantworten. Der Autor steht mehr zur Debatte als sein Buch. In der Diskussion ist diese Nuschelmaske mit Brille und Schnäuzer. Ob je diese vom Autor erzeugten Bilder zugunsten des Textes zurücktreten werden, bleibt höchst fraglich.

Man müsste dem Autor wohl auch beibringen, dass auch er nur der Leser von Texten sei. Dass auch er nur ein Verständnis von Texten wiederzugeben versuche, welches nicht schon allein dadurch, dass er es vom Kontext der Wissenschaft in den der Politik verfrachte, zu akzeptieren sei.

Man müsste ihm mitteilen, dass es sich bei seinem Buch um einen Text und nicht die Wirklichkeit selbst handele. Allein der Dilettant liebt die steilen Thesen, allein er glaubt an den scharf an der Wirklichkeit sich gebenden Text.

Lesefrüchte für Millionen

Es gehört zu den typischen Kennzeichen des erfahrungsarmen Dilettanten, dass er seine Lesefrüchte, sein Zeitschriften- und Bücherwissen nicht in den Diskurs der Wissenschaften einspeist und damit zur Diskussion stellt. Interessant ist auch, dass hier ein Autor in die Naturwissenschaft wechselt, der von der Wirtschaftswissenschaft kommt, deren grandioses Scheitern als Wissenschaft er erkennen und miterleben musste. Nun macht er sich im Labor einer anderen Wissenschaft fett und tritt dann – den Systemwechsel wie ein Hintertürchen nutzend – mit seinen Erkenntnissen, die im Lichte undiskutierbarer Naturgesetzte erscheinen, auf den Marktplatz.

Dass er das Labor nur besucht hat, seine vorher gefassten Überzeugungen zu belegen, widerlegt ihn wissenschaftlich und macht ihn publizistisch um so erfolgreicher. Endlich muss man nicht mehr diskutieren. Endlich hat die Wissenschaft festgestellt. Endlich unpolitische Politik. Endlich keine Texte mehr. Endlich Nichtleser.