„parrhesia“ und die Mechanismen der Macht
Anna Politkowskaja
Russisches Tagebuch
Fischer 2008
Monika Maron betont in ihrem Vorwort zu Recht, man spreche zwar seit dem politischen Mord an Politkowskaja zwar viel über deren Person, aber wenig darüber, wofür sie „unbeirrbar einstand“. Es scheint eine Konstante der populären Rezeption zu sein, sich mehr für Einzelschicksale zu interessieren als nach strukturellen (politischen) Zusammenhängen zu fragen. Das mag in der größeren Anschaulichkeit einer solch spektakulären Vita wie der Politkowskajas
seine Ursache haben. Und tatsächlich erhält die parrhesia, das Wahrsprechen, durch den Einsatz des eigenen Lebens, das bedeutende Gewicht. Trotz aller existentiellen Gefahren ist dies dennoch nur der Einsatz, den man in Kauf nimmt oder geradezu sucht, um sich entsprechend Gehör zu verschaffen.
Foucault, der aus der sicheren Position eines akademischen „Intellektuellen“ davon sprach, seine Texte sollten wie Bomben sein, war es vorbehalten, mit „Diskurs und Wahrheit“ den theoretischen Rahmen zur Untersuchung dessen zu liefern, was er „parrhesia“ bzw. wahrsprechen nannte, und was Politkowskaja derart kompromisslos praktizierte. Die Stärke ihres politischen Tagebuchs liegt zweifellos darin, an konkreten Fällen zu zeigen, wie die Mechanismen der Macht im einzelnen funktionieren, wie sich ein Regime etabliert und hält. Mit einer zynischen Sicherheit gelingt es, selbst die härtesten Gegner zum Aufgeben zu bewegen – durch
Einschüchterung, Geld, Macht, Karriere oder Mord. Alex Goldfarb und Marina Litwinenko, die Witwe des ermordeten russischen Ex-Geheimdienstlers beschreiben in „Tod eines Dissidenten. Warum Alexander Litwinenko sterben musste“ ebenfalls die (Hinter-)Gründe eines politischen Mordes an einem, der „sein Leben aufs Spiel setzte, weil er das Wahrsprechen als eine Pflicht
erkannte, um anderen Menschen (so wie sich selber) zu helfen oder sie zu verbessern“. Die Schicksale dieser Menschen verdienen es, dass man nicht bei Ihnen, beim rein Menschlichen stehen bleibt, sondern danach fragt, wofür sie ihre Existenz riskierten: „Das ist wieder einmal typisch für uns. So lange die Augen zu verschließen vor der Realität, bis sie über uns hereinbricht wie ein Taifun. Auch mich entsetzen meine Schlussfolgerungen. Mir wird übel davon, mein Organismus wehrt sich dagegen zu begreifen, (…) Und doch weiß ich: So und
nicht anders ist es. Also frage ich weiter: (…)“.