Barock und Debatte

Karl-Heinz Ott
Tumult und Grazie
Hoffmann und Campe 2008

Die Wiederentdeckung der Barockmusik vor 30 bis 40 Jahren vollzog sich auch als Aufstand des Orchesters gegen die großen Diktatoren am Pult, Böhm und Karajan. Sie erlebte ihren ersten Höhepunkt in der Einspielung der Brandenburgischen Konzerte von Bach durch Reinhard Göbel. Danach ging es Schlag auf Schlag, Gezirp auf Geknarr, Gesirr auf Geschnarr. Galt Barock bislang doch als bloße verknarzte Affektmaschine, die die Idee der Subjektivität und Individualität nicht kannte. Adorno, der vielleicht berühmteste Musikverkenner, nannte die Aufführungspraxis auf historischen Instrumenten einen „Rückfall in die Barbarei“, was Ott allzu zurückhaltend mit „erstaunliche Unkenntnis“ quittiert, waren Adornos Gedanken zur Kulturindustrie doch in der Regel alle frei von Empirie. Interessant immerhin, dass gerade durch und mit der Barockmusik sich ein Demokratisierungsschub im Musikleben durchsetzte. Nun, die Zeiten in denen Barockmusik als Debattierclub über Phrasierung und Tempi organisiert war, sind heute auch vorbei.
Der Verlag nennt Otts Sachbuch auf dem Umschlag einen groß angelegten Essay. Wollte man hier wieder Adornos Verständnis des Essays zu Grunde legen, trifft dies auf Otts schönes Buch genau nicht zu. Was diesen allerdings an keiner Stelle davon abhält, überraschende Gedanken zu äußern, die nicht nur die Barockzeit, sondern zugleich uns selbst erhellen: „Zu Händels Zeiten wäre es undenkbar gewesen, von der Kunst zu verlangen, dass sie über ein sogenanntes gesellschaftliches Bewusstsein wachen und es über sich selbst, was heißt über seine Vorurteile und Beschränktheit, aufklären muss.“ Auch hierin erkennt man unschwer den Einfluss des oben bereits genannten Adorno. „Das die Kunst,“ so Ott weiter, „seit sie nicht mehr im Dienst der Kirche und des Adels steht, mit ideologischen Ansprüchen wie nie zuvor überfrachtet wurde, lässt sie zuweilen als viel unfreier als zu jenen Tagen erscheinen, da sie sich gar keine allzu großen Gedanken über ihre Freiheit und Unfreiheit machte.“