Des Strategen Schlüssel zum Sieg. Kriegkunst zwischen Humanismus und Zweckrationalität
Sun Tsu
Die Kunst des Krieges
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008
Das „Sunzi bingfa (Die Kunst des Krieges)“ avancierte schon vor längerer Zeit zu einem Bestseller des Modernen Antiquariats, was der Qualität der Editionen und Ausgaben nicht immer förderlich war. Geschadet hat dem Textverständnis außerdem, dass es spätestens seit den achtziger Jahren üblich war, die einzelnen Lehrsätze ungeachtet ihres historischen und thematischen Kontextes auf vor allem ökonomische Sachverhalte zu beziehen; man denke etwa an Titel wie Schwanfelders „Sun Tzu für Manager“ (Campus 2004).
Umso erfreulicher ist diese Neuausgabe der exaktesten Übersetzung von Klaus Leibnitz, die zuerst 1989 in Karlsruhe erschien. Begleitet wird diese Übersetzung von einem Kommentar Gregor Pauls, der das Sunzi bingfa in seinen historischen und argumentativen Kontext einordnet. Er unterscheidet zwei unterschiedliche Interessen, die an den Text herangetragen werden können: einmal das Interesse an Fragen der Kriegsführung, also strategische und taktische Fragen im zweckrationalen Sinne, und einmal Fragen nach Sinn und Zweck von Kriegen im allgemeinen. Auf letztere Frage legt er den Schwerpunkt seiner Darstellung.
Paul arbeitet drei Prinzipien (er nennt sie Überzeugungen) heraus, die der historischen Debatte um Krieg und Frieden zu Grunde liegen: erstens sind Kriege schlecht und nach Möglichkeit zu vermeiden; zweitens ist Frieden wichtiger als Wahrheit, d. h. auch wichtiger „als das Ziel, der Wahrheit Geltung zu verschaffen“; drittens ist die jeweilige Regierung gleichzeitig auch die höchste Macht – es gibt keinen Gott. Außerdem beschreibt und erörtert Paul die folgenden im damaligen Diskurs gültigen Kriegsziele: Kriege zum Ausbau politischer Macht, zur Befriedigung persönlicher Interessen, zur Beendigung grausamer Herrschaft und zur Befreiung aus einer existenzbedrohenden Lage.
Wer glaubt, diese historische Verortung diene allein dem Verständnis des Textes, habe aber keine darüber hinaus gehende Bedeutung, täuscht sich. Die Einführung drängt des Öfteren Assoziationen zu aktuellen kriegspolitischen Aktivitäten auf; ein Beispiel: „Wenn nun ein kleiner Fehler begangen wird, dann wissen sie, ihn zu verurteilen; aber wenn ein großer Fehler begangen wird, wie das Angreifen eines Staates, dann wissen sie nicht, ihn zu verurteilen, sondern loben ihn sogar noch und nennen es Rechtschaffenheit. Kann man da noch sagen, dass sie den Unterschied von Recht und Unrecht kennen?“ Hierzu noch eine Anekdote aus dem „Handbuch der Strategien“ von Scheuss: „Der chinesische Präsident Hu Jintao konnte sich die pikante Geste bei seinem offiziellen Staatsbesuch am 19. April 2006 in den USA nicht verkneifen, eine seidenbestickte Sun-Tzu-Ausgabe als Geschenk für Präsident George W. Bush mitzubringen […]“ Paul beschäftigt sich im letzten Kapitel dann auch explizit mit den Parallelen zur aktuellen politischen Entwicklung, die dahin zu führen scheint, dem Krieg als politischem Mittel wieder zu alten fragwürdigen Ehren zu verhelfen.
Abgerundet wird der Band durch einen der Editionsgeschichte gewidmeten Artikel, der die Entstehungslinien der Quellen und deren Übersetzungen nachzeichnet; erwähnenswert ist beispielsweise, dass Sun Tsus Text erst durch eine Rückübersetzung aus dem Russischen in deutscher Sprache zugänglich wurde. Eine knappe Bibliografie lädt zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema ein.
Kommen wir nun zum Text von Sun Tsu selbst: er enthält nämlich eine komplette Strategieauffassung in nuce. Während man dem gerade erschienenen „Handbuch der Strategien“ von Scheuss entnehmen kann, dass der Strategiebegriff in der Ökonomie nahezu auf den Begriff „Planung“ reduziert werden kann, ist dies hier nur einer von fünf Faktoren: „Die Hauptelemente der Kriegskunst sind: erstens die Beschaffenheit des Geländes, zweitens die richtige Bereitstellung des benötigten Materials, drittens die militärische Planung, viertens das Abwägen der Möglichkeiten und fünftens der Sieg.“ [IV.16]
Sehr weitreichend und wichtig ist das Thema der „List“; ein Thema, das man nicht alleine Harro von Senger und seinen 36 Strategemen überlassen sollte, die sich übrigens auch einiger der Lehrsätze aus dem Sunzi bingfa bedienen. List wirkt wie ein Katalysator und hilft beim eleganten und effektiven Siegen. Sie verschleiert die eigene Intention: „Ein Meister der Kriegsführung ist immer durchtrieben und geheimnisvoll, er hinterlässt keine Spur.“ [VI.9], oder sie täuscht dem Gegner falsche eigene Intentionen vor, sie durchkreuzt gegnerische Planspiele und nutzt die Schwächen des Gegners aus.
Aus dem Gesagten lässt sich die angesprochene Differenz zwischen ethischer und zweckrationaler Ansprüche an das Sunzi bingfa erkennen. Dass diese Ansprüche nicht nur von außen an den Text herangetragen werden, sondern sich durchaus beide mit Recht auf einzelne Abschnitte beziehen, lässt sich am besten am Lehrsatz III.3 zeigen, der auch dem Text seinen Titel gibt: „Ohne jeden Kampf einen Feind zu unterwerfen, ist in der Tat wahrer Genius.“. Diese Textstelle muss nicht zwangsweise in einem „humanistischen“ Sinne interpretiert werden; sie lässt sich vielmehr rein zweckrational erklären, denn sie steht im Kontext einer Aufzählung der effektivsten, ökonomischsten Strategien. Anders ausgedrückt: wenn man den Gegner besiegt, ohne sich in Kampfhandlungen einlassen zu müssen, ist in diesem Fall die Differenz zwischen Zweck (Sieg) und Mittel am größten.
Umgekehrt kann sie natürlich, insbesondere in Hinblick auf den historischen Hintergrund und andere Textstellen wie „Wer in der Kunst des Krieges erfahren ist, legt sein Hauptaugenmerk auf die moralischen Gesetze [das Tao] und hält sich genau an seine Pläne und an die Disziplin. Nur so kann man den Sieg herbeiführen.“ [IV.15] auch ethisch erklärt werden. Gregor Paul schreibt dazu in einem unveröffentlichten Kommentar:
„Da in der infrage stehenden Passage von Unterwerfung die Rede ist, ist m. E. folgendes gemeint: Einen Sieg – eine Kapitulation, eine Annahme der Forderungen, die man dem ‚Gegner‘ stellt, usw. – durch Argumentation, Überredung, Einschüchterung, Drohung, Erpressung etc. – zu erreichen, ist einem Krieg (einer bewaffneten Auseinandersetzung) vorzuziehen. Dafür gibt es nach dem Sunzi vor allem zwei Gründe: der Erfolg wird mit minimalen Mitteln erzielt (kostet sozusagen am wenigsten), und er ist die (im gegebenen Fall) humanste Lösung. Der zweite Grund ist freilich im Sunzi nicht explizit ausgesprochen. Er lässt sich jedoch erschließen, wenn man den historischen Kontext bedenkt.“
Diese Eigenschaft des Textes, dass er sich unabhängig von moralischen Maßstäben auch rein zweckrational lesen lässt, hat sicherlich zu seinem Erfolg beigetragen, ähnlich wie „Vom Kriege“ von Clausewitz, der auch, in Anlehnung an Kantsche Terminologie, explizit die Faktoren der Kriegskunst an Zweck-Mittel-Relationen ausrichtet, die aber der Politik ausdrücklich untergeordnet werden. Erst Ludendorff mit seiner Kritik an Clausewitz und seiner damit verbundenen Forderung, die Politik dem Militär zu unterwerfen, macht ein strategisches Verhandeln und d. h. mögliches Vermeiden von kriegerischen Auseinandersetzungen für den Gegner nahezu unmöglich.
Man darf nach dieser Ausgabe berechtigterweise hoffen, dass die Anwendung des Sunzi bingfa zukünftig wesentlich differenzierter ausfallen wird, da nun nicht nur eine solide Übersetzung wieder zugänglich ist, sondern auch durch die Erschließung des historischen Kontextes die Spannung zwischen militärischer Zweckrationalität und ethischen Erwägungen offen gelegt wurde.