Die überwältigende Geschichte
Orlando Figes,
Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland.
Berlin 2008
Vor über 20 Jahren erschien von Anatoli Rybakow der auch heute noch beeindruckende Roman Die Kinder vom Arbat. Der Erfolg dieses Romans, wie vielleicht überhaupt der fiktionalen Erzählliteratur, hängt vermutlich auch damit zusammen, dass die Historiker sich vor allem der Politik, der Ideologie, dem Kollektiv gewidmet haben, und daher das Einzelschicksal, an dem man erst wirklich begreift, was vor sich geht in Russland, in fiktionaler Literatur geschildert wird. Der ungeheure innere Monolog Stalins am Ende von Rybakows Zyklus, dem auch unbewältigte Einarbeitung historischen Materials vorgeworfen wurde, kommt auf die überindividuellen Themen der professionellen Historiker zurück. Da im kommunistischen Russland die Soziologie verboten war, hielt man sich weiterhin an die Romane, die in Frankreich in den großen Zyklen von Zola und Balzac einmal die Vorläufer der neu entstehenden Wissenschaft Soziologie bildeten.
Mit Orlando Figes Buch ist nun auch die professionelle Geschichte, Kempowskis kollektivem Tagebuch vergleichbar, wieder dorthin zurückgekehrt, wo sie bewältigt werden muss, bei den einzelnen Menschen. Die Familien Simonow und Laskin, Buschujew und Golowin, Fursej-German und Golownja-Babizki, Konstantinow und Nisowzew-Karpizkaja, Slawin und Delibasch-Liberman werden in diesem Buch in ihren Schicksalen, Meinungen und Handlungen geschildert, als Objekte der Politik und Ideologie und schließlich eines Kollektivs, das sie alle auch überwältigt.