Kokon und Flügelschlag

David Eagleman
Fast im Jenseits
Campus 2009

Was Kinder am Vorlesen so schätzen ist vor allem die ungeteilte Aufmerksamkeit des Vorlesers. Und dann die Geschichten, denen sie sich ganz öffnen können. Das Abenteuer der Entführung in eine Geschichte können sie in der Zuwendung des Vorlesers sicher bestehen. Zuhören als widerspruchsvoller, aber darum auch reizvoller Zustand von Kokon und Flügelschlag in ein und demselben Augenblick.

Als Erwachsene benötigen wir stärkere Mittel. Die Sicherheit des Ortes wird durch Unwetter und Dunkelheit uns wieder bewusst und die Geschichten sind nun Gespenstergeschichten am Kaminfeuer. Vielleicht die von David Eagleman, die sich deshalb so wunderbar eignen, weil sie uns in kurzen Prosastücken kleine Gedankenexperimente über ein Leben im Jenseits bieten. Kleine und feine Schauer laufen uns über den Rücken, etwa so wie bei dieser Geschichte:

Hier im Jenseits existiert alles in allen möglichen Zuständen gleichzeitig – selbst in Zuständen, die sich gegenseitig ausschließen. Nach Ihrem irdischen Leben, wo mit der Entscheidung für eine bestimmte Möglichkeit alle anderen Alternativen verschwinden, empfinden Sie dies als Schock. Wenn Sie mit einem Menschen eine Liebesbeziehung eingehen, verbieten sich alle anderen Beziehungen: In dem Moment, in dem Sie durch eine Tür gehen, verschwinden alle anderen Türen.
Doch im Jenseits können Sie in unzähligen parallelen Leben sämtliche Möglichkeiten gleichzeitig wahrnehmen. Sie können gleichzeitig essen und nicht essen. Sie können kegeln und nicht kegeln. Sie können reiten und meilenweit vom nächsten Pferd entfernt sein.
Ein blausamtener Engel steigt herab und erkundigt sich, wie Sie mit Ihrem Leben im Jenseits zurechtkommen.
„Das ist alles furchtbar verwirrend für mein armes menschliches Gehirn“, geben Sie zu.
Der Engel kratzt sich an seinem Sternenhaupt.
„Vielleicht können wir mit etwas einfacherem anfangen, vielleicht mit einem Beruf“, schlägt er vor.
Einen Augenblick später stürzen Sie sich in eine Reihe von gleichzeitigen und einander ausschließenden Arbeitswelten. Sie gehen sämtlichen Berufen nach, die Sie als junger Mensch je in Erwägung gezogen haben. Sie sitzen beim Countdown im Cockpit eines Spaceshuttle, verteidigen einen Verbrecher vor einem Geschworenengericht, streifen sich die OP-Handschuhe zu einer Gallenoperation über und donnern mit einem 18-Tonner über die Autobahn. Die Grenzen von Raum und Zeit sind aufgehoben.
„Das ist mir zuviel Arbeit,“ klagen Sie, als der Engel zurückkommt.
„Vielleicht könnten wir ja mit einer noch einfacheren Situation einsteigen“, überlegt der Engel. „Wie wäre es mit einem abgeschlossenen Raum zusammen mit ihrem Partner?“
Schon sind Sie da. Sie unterhalten sich angeregt und sind gleichzeitig mit Ihrem Gedanken woanders. Ihr Partner gibt sich Ihnen hin und gibt sich Ihnen nicht hin. Sie verabscheuen ihn und sind rettungslos verliebt. Er verehrt Sie und überlegt sich, was er wohl gerade mit einer Anderen verpasst.
„Danke“, sagen Sie zu Ihrem Engel. „Das kommt mir irgendwie bekannt vor.“