Unter der Eisdecke

Michael Horeni
Die Brüder Boateng
Drei deutsche Karrieren
Tropen 2012

Im Sport vor allem sind Karrieren aus der Unterschicht möglich. Das war in der Antike schon so. Eine Chance zum sozialen Aufstieg gab es auf dem Sand des Amphitheaters. Eine Unterscheidung ergibt sich allein in der Art der Befristung der Arbeitsverhältnisse. Wenn diese heute auch unblutig ausfällt, ist sie doch nicht weniger brutal.

Michael Horeni hat über diese Befristung von Karrieren ein Buch geschrieben. Es ist großartig geschrieben, einfach und klar und doch höchst intelligent gebaut. An der Brüdern Boateng, George, Kevin und Jérome, zeigt Horeni die Lebensläufe entlang an einer Linie. Man könnte sie die Eisdecke des sozialen Aufstiegs nennen.

In Horenis Buch blickt man durch die Eisdecke. Von unten aus, vom Wasser sieht und hört man durch die Eisdecke etwas vorgehen, verschwommen und undeutlich. Es ist die Migrationsdebatte. Ein absolut unwirkliches Figurenensemble von radikalen Islamisten und Islamkritikern beschäftigen sich immer wieder neu, aber immer auf die gleiche nicht vom Fleck kommende Art und Weise miteinander. Unter der Eisdecke kämpfen die Brüder Boateng um ihren sozialen Aufstieg.

Die größten Trottel des religiösen Fanatismus sind den Islamgegnern gerade recht. In Deutschland werden über Jahre mehr als zehn Migranten ermordet, in Norwegen geschieht ein Massaker mit 77 Toten, aber es braucht nur eine Koranverteilung in den Innenstädten, um die gesellschaftliche Debatte zu dominieren. Es funktioniert wie ein Kartell von Presse, islamistischen Schießbudenfiguren und dubiosen Rummelplatzausrufern.

So auch damals, als Jérome Boateng, Cacau, Özil und Khedira ihre Erfolge in der deutschen Nationalmannschaft hatten. Aber nun gelang es, und Horeni erzählt das genau nach, an der schwachsinnigen, aber von jedem nachvollziehbaren Frage, wer die Nationalhymne mitsänge, soziale Ausgrenzung zu praktizieren.

Wie die Migrationsdebatte in Deutschland längst in einen Zustand der Hysterie übergegangen ist, bei der die einfachsten Empfindungen wie ein Glückwunsch überlagert werden von Fantasien, zeigt Michael Horeni an einer ganz einfachen Szene, die sich während des Länderspiels Deutschland – Türkei zutrug.

„Eine Viertelstunde nach dem Abpfiff, als sich die Spieler gerade umziehen, taucht plötzlich die Kanzlerin mit ihrem Regierungssprecher und dem Bundespräsidenten mitsamt seiner sechszehn Jahre alten Tochter aus erster Ehe in der deutschen Kabine auf. Özil und die meisten anderen Spieler habe nur eine Sporthose an oder ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Als die Kanzlerin im grünen Blazer den halbnackten Özil beglückwünscht und ihm die Hand schüttelt, drückt ein Fotograf des Kanzleramts auf den Auslöser. Das Foto von Özil und der Kanzlerin erscheint in allen Zeitungen. Es ist das Symbolbild der deutschen Internationalmannschaft. Ein paar Tage später heißt es in manchen Zeitungen, dass sich Özil geschämt habe, weil er mit freiem Oberkörper vor der Kanzlerin stand, es werden auch religiöse Gründe angedeutet, weshalb ihm dieses Foto nicht recht gewesen sein soll. Tatsächlich aber mag Özil das Bild sehr. Er bestellt drei Abzüge.“

Die Verzerrung der Wirklichkeit durch ein pseudoinformiertes Nachfühlen steht der üblen Nachrede in nichts nach. Die Befangenheit der Gesellschaft, die selbst noch den Distanziertesten ergreift, ist nicht mehr abzuschütteln. Wo die gesellschaftliche Paralyse auch die Wohlmeinenden erreicht hat, ist im Grunde kein Wort mehr zu verlieren.

Michael Horeni zeigt wie selbst der Sport nicht mehr hält, was er als soziales Bindemittel einmal versprach. Kevin Boateng erhält als erster Fußballer in Deutschland die Fritz-Walter-Medaille zweimal. Und er ist auch der erste, der mit zwei Fritz-Walter-Medaillen nie in die deutsche Nationalmannschaft aufgenommen wurde. Er blieb unter der Eisdecke. Oben geht das Theater weiter.