Holmes lebt – Taktische Thesenbildung

Pierre Bayard
Freispruch für den Hund der Baskervilles. Hier irrte Sherlock Holmes
Kunstmann 2008

Den Ausgangspunkt für Bayards neueste Untersuchung bildet eine ebenso einleuchtende wie verblüffende Feststellung: sowohl Krimiliebhaber wie auch professionelle Leser scheinen von einem unerschütterlichen Glauben an die Richtigkeit der Ergebnisse der ermittelnden Figuren in Krimis beseelt zu sein. Nachdem sowohl die Autorität des Autors als auch die des Erzählers durch die Literaturwissenschaft erschüttert wurde, scheint die Autoritätsgläubigkeit in ermittelnden Kommissarfiguren ein Rückzugsgebiet gefunden zu haben. Und Bayard nimmt es gleich mit dem prominentesten Vertreter seiner Art auf, mit Sherlock Holmes.

Man ahnt, dass Bayard versuchen wird, Sherlock Holmes einen Irrtum in dessen Fall Baskerville nachzuweisen. Unabhängig davon, ob man nun den Ergebnissen von Bayards „Ermittlungen“ Glauben schenkt oder nicht – das Buch ist weniger auf der inhaltlichen als auf der formalen Ebene von Interesse.

Denn im Umgang mit der Inkohärenz von Angaben eines Krimis zeigt sich ein paradigmatischer Unterschied im Interesse, das von der Literaturwissenschaft und Fachbüchern einerseits und der interessierten Öffentlichkeit und Sachbüchern andererseits an ein und denselben literarischen Text herangetragen wird: das Sachbuch als Anwalt öffentlichen Interesses frägt zunächst nach demjenigen, was die inhaltliche Ebene betrifft – vorzugsweise nach dem Whodunit. Wer war der Mörder? Und wenn nicht der von Sherlock Holmes zur Strecke gebrachte, wer war es dann? Insofern versucht Bayard im Stile eines Krimis, die Ermittlungen über die Länge des Textes zu strecken und sich die spektakuläre Enthüllung für das Ende aufzusparen.

Und so wie ein ambitionierter Krimi die Handlung und das Whodunit dazu nutzt, um den Lesern weniger schmackhafte als ambitionierte Aphorismen unterzujubeln, so verwendet Bayard seine eigene „Ermittlungen“ und deren Versprechen auf die Enthüllung des „eigentlichen“ Täters dazu, auch die Erwartungen seiner Kollegen vom Fach zu befriedigen. Denn die Literaturwissenschaft interessiert sich vor dem Hintergrund der Inkohärenz des Inhaltes eines Textes für ganz andere Fragen. Bayard selbst bezieht seine Beobachtung vor allem auf die Dichotomie von Fiktionalität und Faktualität und zwar auf eine Weise, die fatale ontologische Züge annimmt. Aber gehen wir die einzelnen Thesen und Schilderungen kurz im Einzelnen durch.

Zwischenwelten?

Bayard geht von der Feststellung aus, dass ein literarischer Text kein geschlossenes System bildet: „Vor allem aber ist die Welt, die der literarische Text kreiert, eine unvollständige Welt, […]“. Die Literaturwissenschaft spricht seit Ingarden von den „Leerstellen“ des Textes. Und so kamen die Rezeptionstheoetiker Jauß und Iser, im Anschluss an Ingarden, auf die Idee, dass es an der Phantasie des Lesers sei, diese Leerstellen bei Bedarf auszuschmücken. Bayard kommt wenig überraschend zum selben Schluss, ohne jedoch seine Ideengeber überhaupt zu nennen:

„Der Leser braucht sich zunächst nicht unbedingt darum zu kümmern, was sich in diesen Leerstellen der Erzählung abspielt [!], fühlt sich aber mit großer Wahrscheinlichkeit, ganz wie bei den Beschreibungen, aufgerufen, diese Lücken zu füllen, vor allem wenn der Text rätselhafte Spuren abwesender Ereignisse aufweist.“

Man beachte, mit welchem Raffinement der Erzähler seine Pointe – oder sollte ich besser sagen – seinen point of attack – vorbereitet: während man vermuten sollte, dass eine Leerstelle einfach leer ist, wird in diesem Abschnitt unterstellt, dass unabhängig vom Text und unabhängig vom Leser sich in diesen Leerstellen etwas abspielt.

Geradezu kühn ist dann auch die These, zu der Bayard ausholt: „Diese subjektive Unvollständigkeit des Werkes, der begrenzte Charakter der Aussagen und die Unmöglichkeit, die verfügbare Zahl an Informationen zu erhöhen, führen uns zu der Annahme, dass es um jedes einzelne Werk herum eine Zwischenwelt gibt – […]“. Er bezieht sich damit – natürlich wieder unausgesprochenerweise – auf solche Quellen wie die möglichen Welten von Leibniz oder Meinong. Oder man erinnere sich an Parsons These von der angeblichen Unverträglichkeit zwischen den Aussagen „Sherlock Holmes raucht Pfeife“ und „Sherlock Holmes existiert nicht“. In dieselbe Kerbe schlägt auch der Erzähler: „Das Problem liegt darin, dass wir es in der Sprache oft mit sogenannten ‚Mischsätzen‘ zu tun haben. Das sind Aussagen, die sich auf beide Welten, also gleichzeitig auf die Fiktion und die Realität beziehen. Sie erlauben imaginären Figuren, sich in unserer Welt zu bewegen, […]“.

Allerdings scheint Bayard den Einwand Gabriels entweder nicht zu kennen oder zu hoffen, dass ihn der geneigte Leser nicht kennt. Denn Gabriel formuliert genauer und dadurch weniger wirr: „In den Romanen Conan Doyles gibt es die Beschreibung eines Detektivs, der Sherlock Holmes heißt und Pfeife raucht.“.

Was sind Figuren?

Bayards zweite Begründung nimmt seine erste teilweise zurück und spätestens hier muss man sich Gedanken über die Ernsthaftigkeit des Textes machen: „Es läuft auf die Feststellung hinaus, dass fiktive Figuren zwar keine materielle Wirklichkeit besitzen, wohl aber eine psychologische, und dass diese, ob man will oder nicht, unweigerlich eine Art von Existenz mit sich bringt.“ Das soll so viel heißen wie: aus der Tatsache, dass es einige Leser gibt, die die Texte Doyles etwas zu ernst nehmen und sich daher so verhalten, als gäbe es die in diesen Texten geschilderten Figuren tatsächlich, folgt, dass es diese Figuren tatsächlich gibt. Diesem Argument liegt die unausgesprochene Prämisse zu Grunde: das, woran man so fest glaubt, dass es beginnt Auswirkungen zu zeigen, gibt es wirklich. Über die Sinnhaftigkeit urteile jeder selbst.

Während die gerade geschilderte Passage die – man zögert diesen Begriff in diesem Zusammenhang zu verwenden – philosophische Begründung liefern soll, versucht Bayard nur wenig später, dies durch ein historisches Ereignis anschaulich zu unterfüttern und wird wohl für die meisten Leser die wenn nicht argumentatorische so doch emotionale Schlüsselszene bilden:

„Die Ankündigung von Sherlock Holmes‘ Tod führte zu Szenen kollektiver Hysterie, und manche Leser, die ihre Emotionen nicht mehr unter Kontrolle zu halten vermochten, brachen öffentlich in Schluchzen aus. Es wird auch erzählt, dass viele junge Leute, insbesondere in der City, schwarze Bänder trugen, um ihre Trauer zu bekunden. […] Wie soll man erklären, dass der Tod eines fiktiven Geschöpfs solche Wirkungen haben kann, wenn nicht durch die Vermutung, dass es sich eben nicht nur um eine Figur der Fiktion handelt?“

Und wieder kann man dieses Raffinement beobachten mit dem Bayard seine Pointen vorbereitet, indem er die These im Vorhinein implizit unterschiebt. Denn wie kann man in Bezug auf eine fiktive Figur von Tod sprechen? Das bereitet die Behauptung vor, es handele sich nicht nur um eine Figur. Warum aber nicht das Naheliegende benennen, es handele sich darum, dass einige eine fiktive Figur ernster nehmen, als sie ist? Warum solche Thesen?

Wie Bayard lesen?

Man muss nicht autorfixiert sein, und diese Frage nur deshalb stellen, weil der Autor in seinem letzten Text das Hohelied der freien Rezeption gesungen hat. Würde man die Überschrift des vierten Kapitels ernst nehmen („Und nichts als die Wahrheit“) – und es stellt sich die Frage, ob dieses Idiom überhaupt ernst genommen werden möchte – dann würde man das Buch als wissenschaftliches lesen, was ihm bestimmt nicht gut tun würde. Aber nach welchen Kriterien beurteilt man ein Sachbuch oder auch einen Text, der seine Thesen nicht nach Grice’schen Axiomen, sondern nach Kriterien wie Provokation und Taktik aufstellt? Die Antwort ist einfach:
ein solcher Text kann adäquat nur funktionalistisch gelesen werden. Bei seinem letzten Text hatte Bayard eine Entdeckung gemacht: in den Geisteswissenschaften wird häufig über Texte gesprochen, die man nicht gelesen hat. An sich ist diese Beobachtung alles andere als neu, nur das Sprechen darüber war tabu. Von dieser Beobachtung aus stellte er einerseits die These von der Umgestaltung des Textes durch die Gesprächspartner auf und sprach andererseits die Empfehlung aus, weiterhin unbesorgt doch mit entsprechender Technik über ungelesene Bücher zu sprechen. Man erkennt ein Muster: eine zutreffende Beobachtung, eine starke aber theoretisch schwer haltbare These und eine provokante Empfehlung.

In seinem aktuellen Buch verfährt er ähnlich: nämlich erstens die zutreffende Beobachtung, dass man der ermittelnden Figur per definitionem Glauben schenkt. Später stellt er die These von den Zwischenwelten und dem Eigenleben von Figuren auf und stellt seine Kriminalkritik vor, die die Leser dazu einladen soll, selbst zu „ermitteln“.

Den literaturwissenschaftlichen Teil kann man so beispielsweise nicht an seiner offenkundigen fachlichen Schwäche messen, sondern daran, wie er auf literaturwissenschaftlich wenig vorgebildete Leser wirken soll. Und hier genügt er vollkommen, um bei dieser Lesergruppe den Anschein zu erwecken, als ob er die fachliche Debatte überblicke und diese seine Thesen stütze. Dies genügt vollkommen, denn Bayard möchte andererseits diese Leser weder langweilen, noch möchte er seine These an Anschaulichkeit einbüßen sehen. Denn eine Zwischenwelt, ein in unserer Welt eindringender Sherlock Holmes sind allemal anregender als eine Trennung semantischer Ebenen.