Kulturwissenschaftler auf der Steuerungsebene – Wer schützt die Kulturwissenschaft vor den Ansprüchen ihrer Vertreter?

Markus Fauser
Einführung in die Kulturwissenschaft
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
4. Auflage 2008

Die Kulturwissenschaft ringt noch immer um ihr Selbst- und Fremdbild. Eine wichtige Rolle bei dieser Konstitution spielt das Genre des Lehrbuchs. Hierbei geht es zwar auch um wissenschaftliche Konstituentien, die eine wissenschaftliche Disziplin ausmachen, aber letztendlich auch um Einfluss, Reputation und Mittel. Dieses wissenschaftliche, institutionelle und ökonomische Feld möglichst weit abzustecken ist das Bestreben. Dabei erfreut sich die Kulturwissenschaft steigender Beliebtheit gerade auch außerhalb akademischer Kreise, wie man etwa an Neuauflagen der Texte von Egon Friedell erkennen kann. Ein gewichtiger Grund dafür dürfte in der Thematisierung des Alltags liegen (richtig: auch Simmel erfreut sich steigender Beliebtheit).

Denn seit Simmel und Elias ist der Alltag anerkannter Gegenstand (sozial)wissenschaftlicher Untersuchungen geworden, seit Foucault ist er sogar Mode und dadurch wissenschaftlicher Mainstream geworden. Nur wäre es für die Kulturwissenschaft ratsam, Überlegungen über den Stellenwert des Alltags in den Untersuchungen der genannten Autoren anzustellen. Simmel und Elias als Soziologen lag es insofern nahe, den Alltag zu untersuchen, als er ein Teilbereich des Gegenstands der Soziologie, nämlich der Gesellschaft ist. Foucault wiederum leitete aus bis dahin vernachlässigten Untersuchungsgegenständen wie dem Gefängnis weitreichende Thesen über die Funktionsweise von Diskursen und Gesellschaften ab.

Was dort genuiner Bestandteil des Untersuchungsgegenstands ist und hier Anlass für weiterführende Thesen gemäß einer zumindest teilweise elaborierten Methodik ist, wurde in jüngeren Texten häufig zum Selbstzweck. Das Salz beispielsweise an sich mag für einige von Interesse sein und sogar für eine historisch-soziologische Problemstellung, denn das Salz ist ein wichtiger Rohstoff und war einige Zeit ökonomisch sehr bedeutsam. Für ein Verständnis der Literaturgeschichte ist es nahezu bedeutungslos. Derartige Untersuchungen laufen dann so ab, dass der Verfasser sich ex- oder implizit zu Gute hält, ein Thema untersucht zu haben, das bislang (allerdings aus gutem Grund) vernachlässigt wurde. An diese Feststellung schließt sich eine kurze Darstellung des Gegenstands und dann wiederum ein herkömmlicher, sich an der Höhenkammliteratur abmühender ideengeschichtlicher Abriss über einige hundert Seiten an, wie er alle paar Wochen in einem Buch erscheint.

Kultur: Meer ohne Ufer

Wo liegt das Problem? Erstens im Gegenstandsbereich der Kulturwissenschaft oder genauer ausgedrückt: in der fehlenden Thematisierung der Bedeutung eines Gegenstandes für die Kultur als solche. Denn der Gegenstandsbereich der Kulturwissenschaft ist uferlos. Daraus folgt ein gestiegener Anspruch an die Begründung der Relevanz einer Untersuchung eines Gegenstandes und der Begründung des dadurch erhofften Erkenntnismehrwerts. Der Literaturbetrieb wird dafür gescholten, dass er Neuheit als Selbstzweck herausstellt. Die Wissenschaft verfährt ähnlich, indem die „Erstbesetzung“ eines Themas bereits als Leistung anerkannt wird, ohne nach dem Nachweis der Relevanz zu fragen.

Zweitens liegt das Problem neben dem Gegenstand in der fehlenden bzw. nicht reflektierten Methodik. Es ist eine von der Kulturwissenschaft nicht eingestandene Tatsache, dass sie keine genuine Methodik vorweisen kann (und eigentlich auch gar nicht müsste, würde sie nicht immer ihren Anspruch als Leitwissenschaft herausstreichen). Wer an dieser Stelle beispielsweise die cultural studies als Gegenbeispiel anführen möchte, dem sei entgegengehalten, dass sich diese „Methode“ nur so nennt, denn ihr liegt eben keine Methodik sondern nur eine Reklamation eines Gegenstandes für sich selbst zu Grunde. Und ein Gegenstand macht keine Methode.

Drittens liegt das Problem in dem von Vertretern der Kulturwissenschaft häufig formulierten Anspruch, eine „Leitwissenschaft“ zu sein, weil man sich dadurch steigenden Einfluss erhofft. Diesen Anspruch kann man indes nur verfehlen; zweifellos ist die Kulturwissenschaft insofern „übergeordnet“, als sie die Ergebnisse vieler anderer Disziplinen für eigene Synthesen und Analogien nutzt und auch darauf angewiesen ist. Die Metapher der „Überordnung“ bezeichnet hier allerdings keine Hierarchie qualitativer Art im Erkenntnisprozess, so ein häufiges Missverständnis dem die Kulturwissenschaft natürlich gerne Vorschub leistet, sondern lediglich eine späte „Produktionsstufe“ im Erkenntnisprozess, die ihrerseits mit Nachteilen verbunden ist. Denn wo Philosophie, Soziologie, Literaturwissenschaft usw. ihre mehr oder weniger genau begrenzten Gegenstandsbereiche beackern, elaborierte Methoden entwickeln und anwenden und Arbeitstechniken pflegen und tradieren, fehlt dies bislang der Kulturwissenschaft.

Diese Problematik zeichnet sich bei der von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft verlegten „Einführung in die Kulturwissenschaft“ deutlich ab. Sie erscheint jetzt in einer beachtlichen vierten Auflage und darf damit bereits jetzt als ein Klassiker gelten. Wie sich eine Disziplin durch das Genre der Lehr- und Einführungsbücher sowie dem der Textsammlungen und Reader konstituiert, ist aufschlussreich. Daher ist für eine adäquate Einordnung dieser Titel auch der Selbstanspruch, der hier für die Disziplin formuliert wird von Interesse.

Die Superdisziplin?

Die erste Auflage des Titels von Markus Fauser erschien bereits im Jahr 2003, also ein Jahr vor der ganz ähnlich aufgebauten und im akademischen Bereich ebenfalls häufig verwendeten „Einführung in die Europäische Kulturgeschichte“ von Achim Landwehr. Letzterer ist vorsichtig genug, um in seinem Vorwort zu schreiben: „Im Umkehrschluss bedeutet dies freilich nicht, dass europäische Kulturgeschichte eine neue ‚Superdisziplin‘ darstellt, die alle anderen Fächer abschaffen wollte.“ um dann die „gezielte Überschreitung“ der Grenzen von Disziplinen und das Stellen von „sehr (!) grundlegenden Fragen“ für die Kulturwissenschaft zu reklamieren.

Weniger vorsichtig dafür mit umso mehr Selbstbewusstsein geht der gelernte Germanist Fauser vor. Daher überrascht es auch nicht, wenn Fauser schreibt: „Die Beschäftigung mit Literaturtheorien ist deshalb längst kein abgehobenes Ansinnen kleiner Spezialistenzirkel mehr, sondern eine Voraussetzung für die Teilnahme am transdisziplinären Gespräch. Die Kompetenzen und die analytischen Fähigkeiten, zu denen die Literaturtheorie erzieht, sind auch diejenigen, die beim Dialog zwischen den Fachsprachen eine wichtige Rolle spielen.“ Es ist sehr schön für Fauser, dass er immer dort tätig ist, wo eine wichtige Rolle gespielt wird – oder war es umgekehrt? Jedenfalls ist es misslich für seine Argumentation, dass er unterschlägt, dass die Methoden der Literaturwissenschaft selten von ihr selbst stammen – man denke nur an Hermeneutik, Ideengeschichte, Exegese, Diskursanalyse, Dekonstruktion usw.

Hier wird auch das Überschreiten von Grenzen der Disziplinen genannt, aber sofort ein Anspruch daraus abgeleitet: „Die traditionellen Methoden und Theorien bündelt man zu einem neuen Forschungsprinzip, das nicht mehr ein bestimmtes System bevorzugt, sondern lediglich eine praktische Form für die Arbeit vorgibt.“

Erstens ist es schwierig, aus einer Mischung von Methoden und Theorien ein Prinzip zu generieren und dieses Prinzip dann nochmals seinerseits zu einer Vorgabe für die praktische Arbeit umzuwandeln, erscheint geradezu abenteuerlich, wenn hier nicht einfach ein schiefes Bild bzw. Begriffsverwirrung vorherrschen sollte. Oder nicht doch eine Demonstration am Objekt selbst? Ist dieser Satz bereits das Ergebnis einer praktischen Arbeit, die sich nach einem Prinzip gerichtet hat, das aus traditionellen Methoden und Theorien gemischt wurde? Früher war alles einfacher; damals nannte man die unreflektierte Vermischung von Methoden und Theorien, gerade wenn sie von widersprüchlichen Vorannahmen ausgehen, Eklektizismus und versuchte, selbigen zu vermeiden.

Weiter scheint Fauser aus einem zwar gewollten aber unreflektierten Eklektizismus schließen zu dürfen, dass die Kulturwissenschaft „eine Metaebene der Reflexion, eine Steuerungsebene für die Modernisierung der Geisteswissenschaften“ bildet und „funktioniert wie eine Art (!) Moderation der multiperspektivischen Vernetzung von Einzelergebnissen aus Disziplinen“. Irgendwo zwischen dem ungerechtfertigten Anspruch einer Metaebene der Reflexion und dem unfreiwillig ehrlichen Zugeständnis, man moderiere lediglich die Ergebnisse anderer Disziplinen, dürfte das Zutreffende und das Angemessene liegen.