Rainer Maria Rilke. Eine Leseabend mit Michael Schikowski

Lesung zum Rilke-Jahr 2025

Rilkes Gedichte sind vielen ein Leben lang geläufig. Sie wirken bis heute. Die Intensität seiner Prosa strebte die vollkommene Erfassung des Gegenstands an. Der Weg dorthin führte Rilke über das handwerkliche Können, das jede Äußerung, gerade auch die Briefe, einschloss.  Im Brief an einen jungen Dichter nennt er sein Programm: Wie ein erster Mensch zu sagen, was wir sehen und erleben und lieben.

Die Nähe zum Journalismus, zu dem er alle Gaben besaß, fürchtete er. In ihm hätte er ein Auskommen gehabt. (hier zur Lesung des offenen Briefs an Maximilian Harden). Rilke entschied sich für ein prekäres Dasein und wurde vielfach ein Protegé der Reichen. Als Besucher von Tolstoi wurde er diesem lästig, als Sekretär Rodins produktiv. Auch in Worpswede hielt er sich auf, heiratete die Bildhauerin Clare Westhoff, und trennte sich bald darauf.

Neben einigen Gedichten werden vor allem die Prosawerke Rilkes wie die Geschichten vom lieben Gott, der Brief an einen jungen Dichter und die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge im Mittelpunkt dieses Abends stehen.

Mülheimer Literaturclub
Köln-Mülheim, Holsteinstr. 1
Sonntag, 5. Januar 2025
Beginn 18 Uhr

 

Aus: Briefe an einen jungen Dichter von Rainer Maria Rilke:

 

 

 

 

// Immer schön sachlich

// Bücher

Unter der Eisdecke

Michael Horeni
Die Brüder Boateng
Drei deutsche Karrieren
Tropen 2012

Im Sport vor allem sind Karrieren aus der Unterschicht möglich. Das war in der Antike schon so. Eine Chance zum sozialen Aufstieg gab es auf dem Sand des Amphitheaters. Eine Unterscheidung ergibt sich allein in der Art der Befristung der Arbeitsverhältnisse. Wenn diese heute auch unblutig ausfällt, ist sie doch nicht weniger brutal.

Michael Horeni hat über diese Befristung von Karrieren ein Buch geschrieben. Es ist großartig geschrieben, einfach und klar und doch höchst intelligent gebaut. An der Brüdern Boateng, George, Kevin und Jérome, zeigt Horeni die Lebensläufe entlang an einer Linie. Man könnte sie die Eisdecke des sozialen Aufstiegs nennen.

In Horenis Buch blickt man durch die Eisdecke. Von unten aus, vom Wasser sieht und hört man durch die Eisdecke etwas vorgehen, verschwommen und undeutlich. Es ist die Migrationsdebatte. Ein absolut unwirkliches Figurenensemble von radikalen Islamisten und Islamkritikern beschäftigen sich immer wieder neu, aber immer auf die gleiche nicht vom Fleck kommende Art und Weise miteinander. Unter der Eisdecke kämpfen die Brüder Boateng um ihren sozialen Aufstieg.

Die größten Trottel des religiösen Fanatismus sind den Islamgegnern gerade recht. In Deutschland werden über Jahre mehr als zehn Migranten ermordet, in Norwegen geschieht ein Massaker mit 77 Toten, aber es braucht nur eine Koranverteilung in den Innenstädten, um die gesellschaftliche Debatte zu dominieren. Es funktioniert wie ein Kartell von Presse, islamistischen Schießbudenfiguren und dubiosen Rummelplatzausrufern.

So auch damals, als Jérome Boateng, Cacau, Özil und Khedira ihre Erfolge in der deutschen Nationalmannschaft hatten. Aber nun gelang es, und Horeni erzählt das genau nach, an der schwachsinnigen, aber von jedem nachvollziehbaren Frage, wer die Nationalhymne mitsänge, soziale Ausgrenzung zu praktizieren.

Wie die Migrationsdebatte in Deutschland längst in einen Zustand der Hysterie übergegangen ist, bei der die einfachsten Empfindungen wie ein Glückwunsch überlagert werden von Fantasien, zeigt Michael Horeni an einer ganz einfachen Szene, die sich während des Länderspiels Deutschland – Türkei zutrug.

„Eine Viertelstunde nach dem Abpfiff, als sich die Spieler gerade umziehen, taucht plötzlich die Kanzlerin mit ihrem Regierungssprecher und dem Bundespräsidenten mitsamt seiner sechszehn Jahre alten Tochter aus erster Ehe in der deutschen Kabine auf. Özil und die meisten anderen Spieler habe nur eine Sporthose an oder ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Als die Kanzlerin im grünen Blazer den halbnackten Özil beglückwünscht und ihm die Hand schüttelt, drückt ein Fotograf des Kanzleramts auf den Auslöser. Das Foto von Özil und der Kanzlerin erscheint in allen Zeitungen. Es ist das Symbolbild der deutschen Internationalmannschaft. Ein paar Tage später heißt es in manchen Zeitungen, dass sich Özil geschämt habe, weil er mit freiem Oberkörper vor der Kanzlerin stand, es werden auch religiöse Gründe angedeutet, weshalb ihm dieses Foto nicht recht gewesen sein soll. Tatsächlich aber mag Özil das Bild sehr. Er bestellt drei Abzüge.“

Die Verzerrung der Wirklichkeit durch ein pseudoinformiertes Nachfühlen steht der üblen Nachrede in nichts nach. Die Befangenheit der Gesellschaft, die selbst noch den Distanziertesten ergreift, ist nicht mehr abzuschütteln. Wo die gesellschaftliche Paralyse auch die Wohlmeinenden erreicht hat, ist im Grunde kein Wort mehr zu verlieren.

Michael Horeni zeigt wie selbst der Sport nicht mehr hält, was er als soziales Bindemittel einmal versprach. Kevin Boateng erhält als erster Fußballer in Deutschland die Fritz-Walter-Medaille zweimal. Und er ist auch der erste, der mit zwei Fritz-Walter-Medaillen nie in die deutsche Nationalmannschaft aufgenommen wurde. Er blieb unter der Eisdecke. Oben geht das Theater weiter.

// Bücher

Der Mann, der den Marxismus, und der Mann, der Oliver Twist erfand

Tristram Hunt
Friedrich Engels
Der Mann, der den Marxismus erfand
Propyläen 2012

Manche Bücher muss man ein wenig gegen ihre Autoren verteidigen. Ein wenig auch dieses von Tristram Hunt, dem das Bescheidwissen der historischen Folgen des Marxismus manchmal der Darstellung der durchaus rechtschaffenden Motive von Friedrich Engels im Wege stehen. Rechtschaffendere Motive zumindest als die, die Otto von Bismarck 1878 bei der Durchsetzung der Sozialistengesetze hatte. Die Katastrophe, die sich daraus ableiten lässt, ist die eigentlich schon einmal beschrieben worden? Eines zumindest geht daraus indirekt hervor: dass die SPD bis heute sich als Partei zeigt, die ihre Staatstreue beweisen müsste.

In vielen Büchern von Charles Dickens bildet die Armenfürsorge den historischen Hintergrund. Hier wirkt sich allerdings ein neues, modernes, auf wissenschaftlicher Grundlage ruhendes Gesetz aus. Das alte Armengesetz stammte noch aus der Zeit Shakespeares. Es regelte die Armenversorgung so, dass es die Pflicht der Gemeinde sei, für den Lebensunterhalt der Armen zu sorgen. Kurz vor Erscheinen des legendären Oliver Twist (1837), wurde im Parlament das neue Armengesetz erlassen.

Armenpolitik

Friedrich Engels beschrieb 1845 für die deutschen Leser die Zustände in England: „Alle Unterstützung in Geld oder Lebensmitteln“, schreibt er, „wurde abgeschafft; die einzige Unterstützung, welche gewährt wurde, war die Aufnahme in die überall sofort erbauten Armenhäuser.“ Er erläutert den Deutschen dieses neue Phänomen einer sich entwickelnden Industriegesellschaft. Das Prinzip, unter dem diese Armenhäuser geführt wurden, ist Abschreckung: Arbeitshaus-Uniform, wer das Haus verlassen will, muss um Erlaubnis fragen, Tabak ist verboten, selbst die Annahme von Geschenken von Verwandten außerhalb des Hauses ist verboten. Ein berüchtigter wissenschaftlicher Grundsatz war, dass Kinderreichtum unweigerlich zu Armut führe. Also trennt man Frauen und Männer. Die Arbeit, die dort verrichtet werden muss, ist ermüdend, aber, da der Privatwirtschaft keine Konkurrenz entstehen soll, absolut sinnlos.

Charles Dickens‘ Sozialengagement ist das der Barmherzigkeit, nicht das der Politik. Was aber Analyse in dieser Zeit vermochte, kann man in dem Bestseller Die Lage der arbeitenden Klasse in England von Friedrich Engels lernen. Von Engels wird die erhebliche „moralische“ Entrüstung der Bourgeoisie über die sozialen Missstände als Kompensation entlarvt. Diese wurden ja nicht von Dickens allein angeprangert; Disraeli schrieb Sybil oder die beiden Nationen; Thomas Carlyle Einst und Jetzt, Elisabeth Gaskells Mary Barton. Da man heute nur noch den Twist erinnert, Engels politisch aussortiert hat und die anderen ohnehin vergessen sind, erscheint Charles Dickens als Visionär der aufziehenden Industriegesellschaft. Im Fortsetzungsroman der Zeit nimmt Sentimentalität geradezu Warenform an. Dem Massenelend widmete man sich also auf eine recht zwiespältige Art: Konkret wurde es über Armenhäuser verwaltet, in den Romanen aber wurden die Anklagen und Schuldzuweisungen über unbarmherzig handelnde zuständige Institutionen laut.

Geist und Buchstabe – gegen Buchstabe

Die Analyse, die dagegen Engels in seinem Englandbuch vornimmt, ist einfach großartig: „Die Behandlung, die das neue Gesetz dem Buchstaben nach vorschreibt, steht mit dem ganzen Sinn desselben im Widerspruch; wenn das Gesetz der Sache nach die Armen für Verbrecher, die Armenhäuser für Strafgefängnisse, ihre Bewohner für außer dem Gesetz, außer der Menschheit stehende Gegenstände des Ekels und Abscheus erklärt, so hilft alles Befehlen des Gegenteils gar nichts. In der Praxis wird denn auch der Geist und nicht der Buchstabe des Gesetzes bei der Behandlung der Armen befolgt.“

Wie sehr sich dieser Geist gegen den Buchstaben des Gesetzes durchsetzt – Stichwort Hartz IV – wie sich ein Klima der Diskriminierung bei den ausführenden Organen, auch gegen den besten Sinn eines Gesetzes durchsetzt, zeigt dann übrigens auch wieder Charles Dickens am unerträglich selbstgefälligen Kirchspieldiener Mr. Bumble.

// Bücher

Der erste Pirat

Oliver Lepsius, Reinhart
Meyer-Kalkus (Hrsg.)

Inszenierung als Beruf
Der Fall Guttenberg
Suhrkamp 2011

Selten hat man ein so knappes und klares Buch gemeinsamer Anstrengung von vierzehn Autorinnen und Autoren in der Hand, in dem sich politisches Grundwissen so kondensiert versammelt. Dabei wird der Fall Guttenberg, darin besteht genau die Wendung ins Politische, zu einem Fall der Öffentlichkeit. Einer Öffentlichkeit, die Inzsenierung mit Politik verwechselt. Im herausragenden Buch nochmals herausragend Tilman Allert mit seiner (familien)soziologischen Skizze und Sebastian Diziol, der die Rücktrittsrede in einer fulminanten Satz-für-Satz-Analyse erläutert. Nicht allein wegen seines Plagiats, sondern vor allem wegen seiner zutiefst unpolitischen Politik wird man Guttenberg vielleicht einmal als den ersten Piraten erkennen.