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Michael Jensen
Totenland
Kriminalroman
atb 2019
Unbestreitbar ist historisches Grundwissen hilfreich. Jedoch steht dieses Wissen manchmal der Vorstellung im Wege, dass es neben der ‚Geschichte‘ für die Menschen auch einen Alltag gegeben hat. Dieser musste irgendwie unbeeindruckt von den Ereignissen, weiter gelebt werden.
So stellt dieser Kriminalroman seinen Ermittler Jens Druwe mitten in eine Zeit, in der man sich kaum vorstellen kann, dass es einen Alltag gab, einen Alltag der geordneten polizeilichen Täterermittlung zum Beispiel. Druwe, 1943 schwer verwundet, ist abgeschobener Revierhauptmann in der tiefen Provinz, die im April 1945 für die hohen Parteifunktionäre nun plötzlich attraktiv wird. Alle wollen aus dem Rampenlicht und treffen Vorsorge für die Zeit nach dem Zusammenbruch.
Ihr Mittelsmann aber, Gerhard Lessling, im Jargon der Nazis ein Goldfasan, weil Profiteur des Regimes, wird tot aufgefunden. Rache der NS-Gegner? Ein politischer Häftling auf der Flucht aus dem Lager? Jens Druwe ermittelt inmitten einer zusammenbrechenden Welt.
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Vladmir Jabotinsky
Die Fünf
Roman
atb 2017
Der eigentliche Held dieses Romans ist die Stadt Odessa. Vladimir Jabotinsky schreibt über seine Begegnungen mit den Mitgliedern der Familie Milgrom, den fünf Kindern Marussja, Marko, Lika, Serjosha und Torik. Seine zufälligen Begegnungen und wieder auftauchenden Erinnerungen, die Jabotinsky gleich vorweg als trügerisch charakterisiert, fügen sich in das Straßenbild des alten und vergangenen Odessa vor der Oktoberrevolution.
Zehn Volksstämme nebeneinander, schreibt Jabotinsky, einer so pittoresk wie der andere, einer kurioser als der andere. Anfangs lachten sie übereinander, dann lernten sie, auch über sich selbst zu lachen und über alles auf der Welt, sogar über das, was wehtat, sogar über das, was sie liebten. Allmählich schliffen sie ihre Bräuche aneinander ab, lernten, ihre eigenen Altäre nicht mehr übermäßig ernst zu nehmen, und ergründeten allmählich ein wichtiges Geheimnis dieser Welt: Das eigene Heiligtum ist für den Nachbarn nichts, und schließlich ist dein Nachbar auch kein Dieb und kein Landstreicher; vielleicht hat er ja auch recht, vielleicht auch nicht – kein Grund, sich zu grämen.
Odessa, gegründet von Katharina der Großen, war von Anfang an eine modere Stadt, die viele Besucher an das zeitungssüchtige Völkergemisch amerikanischer Städte erinnerte. Aus ihr gingen Alexander Puschkin, Nicolai Gogol und Isaak Babel hervor. In ihr stand der Panzerkreuzer Potjomkin, auf dem 1905 die Matrosen meuterten. Jabotinsky schreibt über diesen Tag:
Wir hatten ihn andächtig begrüßt, gehofft, es werde der Tag der Tage werden, der Beginn langersehnter Ereignisse. Historisch betrachtet stimmte das vielleicht sogar; aber jung, dumm und unerfahren, wie wir waren, ahnten wir nicht, dass sein Choral, der mit einem Glockengeläut begonnen hatte, schon an diesem Abend in sinnloses Kneipengeheul umschlagen würde.