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Martin Tamcke
Tolstojs Religion
Eine spirituelle Biographie
Insel 2010
Sollte Tolstoj eine spirituelle Biographie besitzen – für ihn selbst wäre das vermutlich zweifelhaft – wird sie in diesem Buch von Martin Tamcke vollständig ruiniert. Warum? Zunächst einmal, weil man von Martin Tamcke buchstäblich nichts lernt. Er versteht es weder, den politischen Kontext der Überlegungen Tolstojs angemessen zu erläutern, noch das direkte Umfeld der Familie und Berater Tolstojs zu beleuchten.
Unhistorische Perspektive
Dass die Besuche Tolstojs in Moskauer Armenvierteln längst als so genanntes ’slumming‘ zur sozialreformerischen Praxis in Europa gehörte und bedeutende Sozialreportagen hervorgebracht hat, erläutert Martin Tamcke nicht. Auch die Glorifizierung des einfachen Landlebens durch Tolstoj erscheint bei Tamcke nicht in seinem europäischen Zusammenhang. Zweifellos, dies zeigt besonders schön der Buchumschlag, war Tolstoj, wenn er sich im Bauernlook fotografieren und malen ließ, derjenige, der seine Ideen auch durch einen neuen Dresscode konsequent kommunizierte und plausibilisierte. Martin Tamcke aber stilisiert Tolstoj zum Begründer der Bewegung: „Seitdem zog es zahlreiche Menschen überall auf der Welt im Geiste Tolstojs aufs Land und in ein alternatives Leben bäuerlich-intellektueller Kommunen.“ Abgesehen von der absurden Übertreibung Tamckes („überall auf der Welt“) zeigt sich hier, dass in diesem Buch auch verständliche Sätze vorkommen. Zu den unverständlichen Sätzen gleich mehr.
Dass Russland gewiss nicht der einzige Staat war, der die Gesellschaft mittels der Religion zu formen suchte, bleibt durch den ökumenischen Theologen Tamcke, der doch die Rolle des Protestantismus in Deutschland kennen wird, ungesagt.
Zu Wladimir Tschertkow, dem fragwürdigen Paulus an der Seite Tolstojs, erfährt man von Martin Tamcke leider nichts. Tolstojs bedeutende Mitarbeiterin an den epischen Hauptwerken, Sofia Andrejewna Tolstaja, ist in ihren Urteilen über Tolstoj nach Tamcke stets unmaßgeblich.
Ökumenische Lieblingsdisziplin: Ringen
Martin Tamcke, der bei seinem Buch von einem Essay und Versuch spricht, scheut nicht den Griff in die Begriffskiste der Sonntagsprediger und daher tauchen in seinem Buch so grausliche Worte wie „Verstandesbedenken“ und „Antwortpotential“ auf. Zugleich fehlt Tamcke jeder Sinn für das Alberne dieser selbst ernannten Heiligen, wie den stets kranken Cousin von Sofia Andrejewnas, der den klösterlichen ‚Krankenschein‘ als Ausweis gottgefälligen Lebens lobt. Wem der Sinn für Komisches abgeht, der wird bei Tragödien, wie Flucht und Tod Tolstojs, gerne besserwisserisch und erläutert Sachverhalte, die das Unglück vermieden hätten.
Die Lieblingssportart der Prediger ist das Ringen. So ringt bei Martin Tamcke Tolstoj mit viel Fleiß, aber auch der Christ, vor allem der „gemeine“, ringt gerne innerhalb vollkommen sinnfreier Sätze: „Wo aber der gemeine Christ als Einzelner um seine religiöse Identität ringt, da bricht als Spiegelung des historischen Mönchtums dessen Lebensform nicht selten als Weg oder Anfrage in ihm auf.“
Die Tolstoj-Zitate zählen in diesem Buch zu den ganz glasklaren Stellen. Martin Tamcke zitiert Tolstoj einmal mit dem Satz: „Es schreibt sich nur so schlecht auf dem Lande.“ Und warum erläutert Tolstoj selbst: „Mich drängt es so sehr, zu mähen oder Holz zu hacken.“
Der Ruf nach dem Lektor
Selten hält man ein derart wenig durchdachtes und noch weniger durchgearbeitetes Buch in Händen: „Im Kern stand nun aber nicht mehr die Wende im Zentrum.“ Dass in diesen Fällen immer gleich nach dem Lektor geschrien wird, ist üblich, sollte man hier aber nicht gelten lassen.
Schließlich hat Martin Tamcke ja noch wissenschaftliche Assistenten und Hilfskräfte. Was sagen die denn zu solchen Sätzen? „Tolstojs Leben wurde zu einem Leben von diesem atemberaubenden Ort außerhalb her auf die von dort aus zu verändernde Wirklichkeit zu.“