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Das Führerprinzip und die Laisierung der natürlichen Experten

Miriam Gebhardt
Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen
Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert
DVA 2009

Wenngleich der globale Untertitel dem Buch nicht gerecht wird, ist es doch ein herrliches Gegengift. Wodurch? Durch die Geschichte. Wenn die Geschichte der Erziehung als die Geschichte der Kinder als Tyrannen erzählt wird, dann ist die relativierende Wirkung auf feste Überzeugungen enorm, denn Geschichte impliziert Veränderung. Als kulturelle Konstruktion kann aber eine Wesensbestimmung des Kindes als kleiner Tyrann nicht aufrecht erhalten werden. Wer das Erfolgsbuch von Michael Winterhoff getitelt hat, kennt vielleicht auch diese alte Konstruktion und ihre Bedeutung für die Geschichte der Erziehung in Deutschland. Was Winterhoff dann jedoch schreibt und zwar über die Erziehungskompetenz der Eltern, verschwindet hinter diesem Bild vom Kind als ugly doll fast vollständig.

Ratgeber leben immer schon auch ein wenig vom Defizit beim Leser, vom Defizit an Geschichte einerseits und an Informationen andererseits. Wenn das nicht reicht, werden die Defizite von den Experten eben massiv herbeigeredet. Nachzulesen in Johanna Haarers Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind von 1934, einem Buch wie ein Polizeigriff. Nicht nur wird der intutive Zugang der Eltern zum Kind durch die Behauptung der prinzipiellen Hilflosigkeit der Eltern geleugnet. Auch die Erfahrungen der
Großeltern werden von den Expertinnen wie Hildegard Hetzter und Johanna Haarer zur Gefahr für die Erziehung des Kindes erklärt. Diese damaligen Großeltern sind allerdings weitaus weniger Opfer der schwarzen Pädagogik, als angenommen. Woher Miriam Gebhardt das weiß? Sie zieht in großem Umfang Tagebücher heran, die Eltern für und über ihre Kinder geschrieben haben. Auch dies eine neue und erfolgreiche Version der oral history oder die Installierung von Kempowskis Echolot im Kinderzimmer. Zur Paradoxie des Tyrannen in Windeln, den es um jeden Preis zu verhindern galt, und dem an der Wand im Wohnzimmer und Amtsstuben, der sich bis in die Kinder-Tagebücher verfolgen lässt, findet man bei Miriam Gebhardt allerdings nichts.

Bis in einzele Äußerungen lässt Miriam Gebhardt erkennen, wie sehr die Expertenempfehlung, sich zum Kind in aseptischer Distanz zu halten, sich vor die unmittelbare Wahrnehmung der Eltern schiebt und der erste Impuls, das Kind aufzunehmen, unterdrückt wird. Dabei bleibt sie aber nicht stehen, sondern konstatiert eine komplexe Entwicklung: „Wenn heute konservative Warner die angebliche ‚Erziehungskatastrophe‘ den ’68ern‘ und/oder der sich aufwerfenden Ratgeberflut anlasten wollen, irren sie. Die Orientierung an der Expertise ist ein historisch gewachsenes Phänomen seit dem 19. Jahrhundert (…). Seither verbinden die informierten Schichten mit der expertengeleiteten Lebensführung den Anspruch, ‚richtig‘ zu handeln, setzen sich von anderen Gesellschaftsschichten ab und bevormunden sie auf der Grundlage ihres aktuellen Wissens.“

Wenn Michael Winterhoff es zulässt, dass man seine Symbiosethese der Eltern-Kind-Beziehung auf die alte Tyrannenthese reduziert und er also als Wiedergänger von Jirina Prekops Der kleine Tyrann von 1988 erscheint, kann man dies nur auf seine Unkenntnis der historisch fundierten Plausibilitätskriterien seiner Leser zurück führen. Mit Prekop ging man damals schon wieder in den pädagogischen Schützengraben. Und Winterhoff lässt sich vom Verlag den Patronengürtel umschnallen. Und was machen die informierten Schichten? Sie kaufen, laden nach und bevormunden.


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