// Horeni

// Bücher

Das beste Sachbuch und die besten Sachbücher 2012

Ausgezeichnet werden für das Jahr 2012 Bücher in den folgenden Kategorien: erzählendes zeitgeschichtliches Sachbuch, erzählendes historisches Sachbuch, erzählendes naturwissenschaftliches Sachbuch, Bildsachbuch, Reportage, Essay, Biografie und Ratgeber.

Die besten deutschsprachigen Sachbücher des Jahres wurden bereits 2008, 2009, 2010 und 2011 präsentiert. Ein Preisgeld steht nicht zur Verfügung. Jury: Michael Schikowski.

Das beste Sachbuch des Jahres 2012:

Rainer Merkel
Das Unglück der anderen
Kosovo, Liberia, Afghanistan
S. Fischer 2012

Rainer Merkel schreibt über das Trauma. Das Trauma ist ohne Dauer, ohne Spur, ohne Gedächtnis. Eine Auslöschung der Chronologie. Merkel gelingt es, dies in seinem großartigen Buch sprachlich nachzustellen. Der Traumatologe ist sich immer selbst der Nächste.

———-

In der Kategorie
bestes erzählendes zeitgeschichtliches Sachbuch:

Michael Horeni
Die Brüder Boateng
Tropen 2012

Michael Horeni hat über die Bedingungen von Karrieren ein Buch geschrieben. Es ist großartig geschrieben, einfach und klar und höchst intelligent gebaut. An der Brüdern Boateng, George, Kevin und Jérome, zeigt Horeni die Lebensläufe entlang an einer Linie. Man könnte sie die Eisdecke des sozialen Aufstiegs nennen. Zur ausführlichen Besprechung hier.

———-

In der Kategorie
bestes erzählendes historisches Sachbuch:

Florian Illies
1913
Der Sommer des Jahrhunderts
S. Fischer 2012

Ein elegant gestaltetes und gelungenes Sample des Jahres 1913, lebensnah und jenseits der historischen Schinken.
———-

In der Kategorie
bestes erzählendes naturwissenschaftliches Sachbuch:

Lennart Pyritz
Madagaskar
Von Makis und Menschen
Springer Spektrum 2012

Lennart Pyritz kam als Primatenforscher nach Madagaskar und fand eine Insel vor, die eine eigene politische Geschichte und Kultur besitzt. All dies schildert sein Buch auch mit Hilfe anderer höchst kompetener Beiträger. Mit einem dicken Tagebuch voller Erlebnisse kam er zurück und machte aus all dem ein großartig bebildertes und alle Facetten des Landes darstellendes Buch.
———-

In der Kategorie
bestes Bildsachbuch:

Dagmar Röhrlich
Urmeer
Die Entstehung des Lebens
mare 2012

Wie „Tiefsee“ ist auch dieses reich und schön bebilderte Buch über das Urmeer ein Haus- und Lesebuch im besten Sinne. Das Radio, für das Dagmar Röhrlich arbeitet, hört man mit. Ein Sound, der sofort in den Bann zieht.

———-

In der Kategorie
beste Reportage:

Annett Gröschner
Mit der Linie 4 um die Welt
DVA 2012

Unprätentiös, wie die Wahl der schnöden 4, ist das ganze wunderbare Buch, immer genau und niemals literarisch künstlich aufgebrezelt. Man liest und liest. Und dann ruckelt’s doch. Endstation! Ach!

———-

In der Kategorie
bester Essay:

Bernd Brunner
Die Kunst des Liegens
Handbuch der horizontalen Lebensform
Galiani 2012

Wenn man das gewöhnliche Herumliegen nur etwas höherlegen möchte, dann greife man zu Bernd Brunners ‚Kunst der Liegens‘ als einen gescheiten kulturgeschichtlichen Essay.

———-

In der Kategorie
beste Biografie:

Jörg Magenau
Brüder unterm Sternenzelt
Friedrich Georg und Ernst Jünger
Klett-Cotta 2012

Die Nähe zu Größen ist immer gefährlich, allemal zu solchen wie Friedrich Georg und Ernst Jünger welche sind, Magier für die einen, Zundelfrieder für die anderen. Jörg Magenau ist all dem gewachsen und kommt ihnen näher, in einer eigenständigen und doch angemessen nahen Doppelbiographie: als Erzählung.

———-

In der Kategorie
bester Ratgeber:

Constanze Kleis
Sterben Sie bloß nicht im Sommer
und andere Wahrheiten, die Sie über Ihr Ende wissen sollten
Dumont 2012

Sterben müssen wir alle. Sich darauf vorzubereiten, hilft dieses Buch. Vielleicht geht es bald in der eigenen Umgebung los? Dann ist man bald selbst dran. Und weiß zugleich: das Lesen über Sterben und Tod ist ohne Trainingseffekt.

———-

Hier zum besten Sachbuch und den besten Sachbüchern des Jahres 2014, des Jahres 2013, des Jahres 2011, des Jahres 2010, des Jahres 2009 und des Jahres 2008.

// Bücher

Unter der Eisdecke

Michael Horeni
Die Brüder Boateng
Drei deutsche Karrieren
Tropen 2012

Im Sport vor allem sind Karrieren aus der Unterschicht möglich. Das war in der Antike schon so. Eine Chance zum sozialen Aufstieg gab es auf dem Sand des Amphitheaters. Eine Unterscheidung ergibt sich allein in der Art der Befristung der Arbeitsverhältnisse. Wenn diese heute auch unblutig ausfällt, ist sie doch nicht weniger brutal.

Michael Horeni hat über diese Befristung von Karrieren ein Buch geschrieben. Es ist großartig geschrieben, einfach und klar und doch höchst intelligent gebaut. An der Brüdern Boateng, George, Kevin und Jérome, zeigt Horeni die Lebensläufe entlang an einer Linie. Man könnte sie die Eisdecke des sozialen Aufstiegs nennen.

In Horenis Buch blickt man durch die Eisdecke. Von unten aus, vom Wasser sieht und hört man durch die Eisdecke etwas vorgehen, verschwommen und undeutlich. Es ist die Migrationsdebatte. Ein absolut unwirkliches Figurenensemble von radikalen Islamisten und Islamkritikern beschäftigen sich immer wieder neu, aber immer auf die gleiche nicht vom Fleck kommende Art und Weise miteinander. Unter der Eisdecke kämpfen die Brüder Boateng um ihren sozialen Aufstieg.

Die größten Trottel des religiösen Fanatismus sind den Islamgegnern gerade recht. In Deutschland werden über Jahre mehr als zehn Migranten ermordet, in Norwegen geschieht ein Massaker mit 77 Toten, aber es braucht nur eine Koranverteilung in den Innenstädten, um die gesellschaftliche Debatte zu dominieren. Es funktioniert wie ein Kartell von Presse, islamistischen Schießbudenfiguren und dubiosen Rummelplatzausrufern.

So auch damals, als Jérome Boateng, Cacau, Özil und Khedira ihre Erfolge in der deutschen Nationalmannschaft hatten. Aber nun gelang es, und Horeni erzählt das genau nach, an der schwachsinnigen, aber von jedem nachvollziehbaren Frage, wer die Nationalhymne mitsänge, soziale Ausgrenzung zu praktizieren.

Wie die Migrationsdebatte in Deutschland längst in einen Zustand der Hysterie übergegangen ist, bei der die einfachsten Empfindungen wie ein Glückwunsch überlagert werden von Fantasien, zeigt Michael Horeni an einer ganz einfachen Szene, die sich während des Länderspiels Deutschland – Türkei zutrug.

„Eine Viertelstunde nach dem Abpfiff, als sich die Spieler gerade umziehen, taucht plötzlich die Kanzlerin mit ihrem Regierungssprecher und dem Bundespräsidenten mitsamt seiner sechszehn Jahre alten Tochter aus erster Ehe in der deutschen Kabine auf. Özil und die meisten anderen Spieler habe nur eine Sporthose an oder ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Als die Kanzlerin im grünen Blazer den halbnackten Özil beglückwünscht und ihm die Hand schüttelt, drückt ein Fotograf des Kanzleramts auf den Auslöser. Das Foto von Özil und der Kanzlerin erscheint in allen Zeitungen. Es ist das Symbolbild der deutschen Internationalmannschaft. Ein paar Tage später heißt es in manchen Zeitungen, dass sich Özil geschämt habe, weil er mit freiem Oberkörper vor der Kanzlerin stand, es werden auch religiöse Gründe angedeutet, weshalb ihm dieses Foto nicht recht gewesen sein soll. Tatsächlich aber mag Özil das Bild sehr. Er bestellt drei Abzüge.“

Die Verzerrung der Wirklichkeit durch ein pseudoinformiertes Nachfühlen steht der üblen Nachrede in nichts nach. Die Befangenheit der Gesellschaft, die selbst noch den Distanziertesten ergreift, ist nicht mehr abzuschütteln. Wo die gesellschaftliche Paralyse auch die Wohlmeinenden erreicht hat, ist im Grunde kein Wort mehr zu verlieren.

Michael Horeni zeigt wie selbst der Sport nicht mehr hält, was er als soziales Bindemittel einmal versprach. Kevin Boateng erhält als erster Fußballer in Deutschland die Fritz-Walter-Medaille zweimal. Und er ist auch der erste, der mit zwei Fritz-Walter-Medaillen nie in die deutsche Nationalmannschaft aufgenommen wurde. Er blieb unter der Eisdecke. Oben geht das Theater weiter.