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Ortsbegehung Frankreich

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Tanja Kuchenbecker
Marine Le Pen
Tochter des Teufels
Vom Aufstieg einer gefährlichen Frau und dem Rechtsruck in Europa
Herder 2017

Die erste schlüssige Analyse der rechten Wähler aus der alten Arbeiterschaft legte Didier Eribon in seinem Buch Rückkehr nach Reims in einer Art Ortsbegehung vor. Eribon schildert in diesem Buch sein Zerwürfnis mit der Herkunftsfamilie, die seinem Coming out und seiner wissenschaftlichen Karriere hilf- und ratlos gegenüber steht. Nach Jahren des Schweigens und Fremdwerdens kehrt er zurück. Den Soziologen und Rückkehrer Eribon frappiert, dass in seinem Herkunfsmilieu, das einmal durch und durch kommunistisch war, nun der Front National gewählt wird.

Nach Eribons fast dramatisch anmutender Anaylse – insofern sich hier der Soziologe Eribon auf eine einzigartige Art und Weise selbst beschreibt – geht dem Rechtsruck eine über Jahrzehnte andauernde Liberalisierung von Wirtschaft und Sexualität voraus. In der neuen Konsumkultur sind Geld und Geschlecht nur verschiedene, aber vorgeblich jederzeit und vor allem jedem mögliche Wege der Individualisierung. Dass dies auf Kosten der sozialen Sicherung geschehen sei, ist zwar faktisch nicht ausgemacht, wird aber unzweifelhaft so wahrgenommen.

7252Das war der Grund, weshalb sich im Rahmen einer wie von selbst ablaufenden Neuverteilung der politischen Karten große Teile der Unterprivilegierten jener Partei zuwandte, die sich nunmehr als einzige um sie zu kümmern schien und die zumindest einen Diskurs anbot, der versuchte, ihrer Lebensrealität wieder einen Sinn zu verleihen. (…) Meine Mutter gab schließlich, nachdem sie es lange verleugnet hatte, zu, schon einmal den Front National gewählt zu haben.

Èdouard Louis hat eine ganz ähnliche Entwicklung wie Eribon in seinem Buch Das Ende von Eddy beschrieben, ein Buch, das 2014 auf Deutsch erschien und Didier Eribon gewidmet ist. Die vertrackte Pointe aber fehlt ihm, dass die Geschlechtspolitik in den Sog der wirtschaftsliberalen Individualisierung geriet. Schließlich sorgte die digitale Neugründung für die Auflösung der alten Verbände und Stämme. Mit diesen Stämmen lösten sich nicht allein die homophoben Stammtische auf, sondern auch die linken Stammwähler verliefen sich.

Wohin sie gehen, ist bekannt. In ihrem Buch beschreibt Tanja Kuchenbecker den 1972 von Jean-Marie Le Pen gegründeten Front National, der die Kränkung des Niedergangs der Kolonialmacht Frankreich in rechtsradikale Parteipolitik verwandelte. Das Verlangen nach alter Größe blieb im Zuge wirtschaftlicher Erfolge überschaubar und historisch abgetan. In Le Pens Partei überdauerte es jedoch wie ein Kassiber.

2002 schließlich kam Le Pen bei der Präsidentenwahl auf immerhin 17 Prozent Stimmenanteil. Die Versuche der Verwandlung des Front National zu einer ganz normalen Partei durch Marine Le Pen erzählt nun Tanja Kuchenbecker. Und im Schlußkapitel betrachtet sie die internationale Rechtsfront, ihre Allianzen und Unterschiede von der AfD, FPÖ bis FIDESZ.

Didier Eribon
Rückkehr nach Reims
Suhrkamp 2016

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Geschlecht und Gewalt


Édouard Louis
Das Ende von Eddy
Roman
S. Fischer 2015

Die Geschichte der französischen Dörfer ist noch nicht geschrieben. Aus der Perspektive unseren letzten Urlaubs in der Picardie ist die nicht zu erzählen. Louis erzählt sie. Jeder kennt dieses Dorf mit dem Gefallenendenkmal des Ersten Weltkriegs auf dem zentralen Platz, Kirche, Mairie und Schule darum. Der Bushaltestelle in der Nähe und den um nichts mehr als Alkoholnachschub besorgten Jugendlichen.

Darunter der schwule Eddy Belleguelle, der von Beginn an falsch geht und falsch spricht, nicht männlich und zur Zielscheibe gezielter, wiederholter Attacken der Jungen wird. Er schreibt: „Ich weiß nicht , ob die Jungen ihr Verhalten als brutal bezeichnet hätten. Die Männer im Dorf benutzten dieses Wort nie, in ihrem Mund gab es das nicht. Für einen Mann war Brutalität etwas Selbstverständliches, Natürliches.“

Vor dreissig Jahren studierte man bei diesem Schicksal Psychologie. Édouard Louis, gerade mal 22 Jahre alt, studiert jetzt Soziologie. Die Soziologie von Geschlecht und Gewalt im französischen Dorf, in dem einer wie er nur auf ein Ende seiner Zeit dort hoffen kann. So oder so.