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Die neue Arbeitsplatzbeschreibung

Elizabeth Anderson
Private Regierung
Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden)
Suhrkamp 2019

Es sind die jedem zugänglichen Beobachtungen, die ein Theoriewerk verständlich machen. Wer also als Einzelunternehmer in seinem Laden steht, weiß sofort, wovon hier die Rede ist. Denn er verrichtet die Arbeit, die auch seine Mitarbeiter tun, und zwar unter ganz ähnlichen Bedingungen. Und diese Verhältnisse waren, folgt man Elizabeth Anderson, bis nahe an die Ära Lincoln das Ideal des freien Marktes und seiner erwarteten Segnungen. Das Ideal blieb bestehen, die Realität des Marktgeschehens wurde aber ganz anders. Die industrielle Revolution veranlasste die Entstehung großer Unternehmen mit einer streng hierarchisierten Struktur. Eine Struktur der Herrschaft, die Ernst Kantorowicz einmal, als er über die mesopotamischen Großreiche schrieb, als „managerial und hydraulisch“ bezeichnete.

Das Buch von Elizabeth Anderson ist mit Kommentaren und Aufsätzen ausgestattet. Darin schreibt Ann Hughes: Andersons erstes Kapitel ist eine beispielhafte Vorführung, wie man historisches Material als eine Schatzkammer für die Vorstellungskraft einsetzen kann und als ein Vermächtnis für die Gegenwart behandelt.

Die Pointe bei Andersons Blick in die tiefe Vergangenheit des Marktes und seiner Theoretiker wie Adam Smith und Thomas Paine ist, dass das Marktdenken zu dieser Zeit wesentlich links war. Der Einzelunternehmer stand den vielen alten bevorrechtigten Institutionen gegenüber, vor allem den Gilden und dem Adel, und sollte gestärkt werden. Unter den heutigen Bedingungen aber erleben wir die Unternehmen als Staat im Staate.

Der historische Rückgriff ist notwendig, denn der öffentliche wirtschaftspolitische Diskurs ist nach Elizabeth Anderson intellektuell zu dürftig ausgestattet, um mit diesen Herausforderungen fertig zu werden.

Da die heutigen Unternehmen zutiefst kollektivistisch und nahezu absolutistisch organisiert sind, ist Elizabeth Anderson davon überzeugt, dass die Mehrzahl der Arbeitnehmer in den Vereinigten Staaten (…) im Arbeitsleben von kommunistischen Diktaturen regiert wird. Diese Regierungen verdanken sich keiner Wahl der Arbeitnehmer. Sie sind ihr an ihrem Arbeitsplatz vollständig ausgeliefert, heute mehr als jemals zuvor.

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Das kuratierte Leben

Andreas Reckwitz
Die Gesellschaft der Singularitäten
Zum Strukturwandel der Moderne
Suhrkamp 2017

Es klingt vielleicht widersprüchlich bei einer Theorie von ihrem Zugriff zu sprechen, denn Theorie ist der Begriff, das Allgemeine, und im Zugriff ist stets nur das Besondere. Genau dies ist aber die Leistung der abstrakten Beschreibungsebene der Gesellschaft, die Andreas Reckwitz bietet. Was er an Begriffen einführt und erläutert, ist zugleich Zugriff. Ein Zugriff, den er an Beispielen erläutert oder, und darin wird eine Theorie nahezu erlebbar, der die verwirrenden und unzusammenhängenden Einzelphänomene der Gesellschaft erfasst.

Und so überrascht der theoretische Zugriff den Autor selbst: Ich war im Laufe des Schreibens häufig selbst überrascht, wie eine einmal justierte Begriffsheuristik – Singularisierung und Valorisierung – die empirischen Zusammenhänge in einem anderen Licht erscheinen ließ, so dass sich die scheinbar isolierten Teile der Spätmoderne Schritt für Schritt wie bei einem Puzzle zu einem Bild zusammenfügten.

Ein Bekenntnis, das in wissenschaftlichen Texten selten genug zu finden ist – erkennt man doch darin auch eine Reflexionsfigur des populären Sachbuchautors, dessen Interesse am gewählten Sachverhalt stets steigt, oder des Romanschriftstellers, dessen Figuren ein seltsames Eigenleben haben. In allen drei Fällen aber sind das keine Bescheidenheitsfloskeln, sondern ganz im Gegenteil Nachweise der vom Autor längst unabhängig gewordenen Bedeutung der Figuren, der Sachverhalte oder Theorie. Bemerkungen, die sich vielleicht auch darüber legitieren, dass Andreas Reckwitz für sein Buch den Bayerischen Buchpreis erhalten hat und zwar in der Kategorie Sachbuch. Da erhält das richtige Buch den falschen Preis. Auf der Shortlist standen noch Gerd Koenens Die Farbe Rot und Jürgen Goldsteins Blau.

Der zentrale Begriff, der die Risikogesellschaft (Beck) und Erlebnisgesellschaft (Schulze) ablösenden Gesellschaft, ist die Gesellschaft der Singularitäten. Reckwitz wählt hier einen Neologismus um etwas Neues zu kennzeichnen. In seiner Theorie der Gesellschaft ist diese Gesellschaft eine Singularisierungsmaschine, die mit nichts anderem beschäftigt scheint, als Singularitäten zu fabrizieren, wie Reckwitz selbst schreibt. In ihr werden Objekte, Subjekte, Räumlichkeiten, Zeitlichkeiten und Kollektive in Praktiken der Beobachtung, der Bewertung, der Hervorbringung und der Aneignung singularisiert und damit Teil unserer Lebensqualität. Die Gesellschaft der Singularitäten setzt sich damit von der alten Industriegesellschaft deutlich ab, die im bloßen Lebensstandard ihr Ziel fand.

Reckwitz schreibt in seinem Opus magnum nichts weniger als eine neue Theorie der Gesellschaft, deren zentraler Begriff die Kultur ist, und die darum ganz nebenbei – Reckwitz erwähnt es beiläufig, aber deutlich genug – die Systemtheorie Luhmanns, die keinen systematischen Ort mehr für die Kultur anbiete, verabschiedet. Der hohe Reiz der Theorie der Gesellschaft der Singularitäten liegt dann schließlich in der Durchführung, die Reckwitz unternimmt in den Feldern der Arbeitswelt, der Digitalisierung, der Lebensführung und der Politik. Eine Theorie für die nächsten zehn Jahre, denn ihr gelingt es, die sonst so weit voneinander geschiedenen Felder zusammen zu denken.

Im letzten Kapitel wird die Theorie der Singularitäten besonders eindrucksvoll angewandt, insofern sie den Aufstieg des Kulturessentialismus zu erläutern vermag, der sich in vier Ausformungen der Indentitätspolitik, des Kulturnationalismus, des Fundamentalismus und des Rechtspopulismus präsentiert. Diese Neogemeinschaften, schreibt Reckwitz, sind wohlgemerkt keine antimodernen Fremdkörper, sondern als ein Teilelement der Gesellschaft der Singularitäten zu verstehen, deren Grundeigenschaften sie tatsächlich teilen. Und noch mehr, sie sind das kulturelle und politische Ergebnis der multikulturellen Gesellschaft, die sie so sehr verachten.

Was Gesellschaft der Singularitäten genauer meint, wird vielleicht deutlicher an der Kultur. Ist diese doch in der alten Gesellschaft des Allgemeinen ein verbindliches System, das man sich aneignete und in das man hineinwuchs. Nun ist sie bloß noch ein System von Ressourcen, die flexibel und wechselnd herangezogen werden zum Zweck der Singularisierung. Das als bloßes Detail der Gesellschaft zu bagatellisieren, ist nach Reckwitz nun nicht mehr möglich. Lebte man in der standardisierten und nivellierenden Mittelstandsgesellschaft sein Leben in Standards, die nicht leicht zu erreichen waren, wird es nun, wie Reckwitz schreibt, kuratiert.

Andreas Reckwitz hat mit Gesellschaft der Singularitäten eine Gesellschaftstheorie vorgelegt, deren Leistungsfähigkeit hier kaum mehr als an Details gezeigt werden kann. Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens beispielsweise kann nur in der von Reckwitz identifizierten Klasse der neuen Mittelschicht, die Arbeit an Selbstverwirklichung koppelt, präferiert werden. Die strukturkonservative, noch in industriellen Standards denkende alte Mittelschicht, die Arbeit als gerechte Entlohnung sieht, lehnt diese Idee ab, in der Unterschicht aber wird sie als Katastrophe gesehen. Eine immense Aufwertung bedeutet auf der anderen Seite vollkommene Abwertung. In Reckwitz Gesellschaft der Singularitäten werden daher nicht allein Risse sichtbar, sondern Dynamiken, die zur Spaltung der Gesellschaft führen.

Vielleicht ist auch der letzte Satz dieser bedeutenden Gesellschaftsanalyse mehr als nur an den Leser gerichtet, sondern beschreibt zugleich den Autor: Die sozialen Asymmetrien und kulturellen Heterogenitäten, welche dieser Strukturwandel der Moderne potenziert, seine nicht planbare Dynamik von Valorisierungen und Entwertungen, seine Freisetzung positiver und negativer Affekte lassen Vorstellungen einer rationalen Ordnung, einer egalitären Gesellschaft, einer homogenen Kultur und einer balancierten Persönlichkeitsstruktur, wie sie manche noch hegen mögen, damit als das erscheinen, was sie sind: pure Nostalgie.

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Ortsbegehung Frankreich

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Tanja Kuchenbecker
Marine Le Pen
Tochter des Teufels
Vom Aufstieg einer gefährlichen Frau und dem Rechtsruck in Europa
Herder 2017

Die erste schlüssige Analyse der rechten Wähler aus der alten Arbeiterschaft legte Didier Eribon in seinem Buch Rückkehr nach Reims in einer Art Ortsbegehung vor. Eribon schildert in diesem Buch sein Zerwürfnis mit der Herkunftsfamilie, die seinem Coming out und seiner wissenschaftlichen Karriere hilf- und ratlos gegenüber steht. Nach Jahren des Schweigens und Fremdwerdens kehrt er zurück. Den Soziologen und Rückkehrer Eribon frappiert, dass in seinem Herkunfsmilieu, das einmal durch und durch kommunistisch war, nun der Front National gewählt wird.

Nach Eribons fast dramatisch anmutender Anaylse – insofern sich hier der Soziologe Eribon auf eine einzigartige Art und Weise selbst beschreibt – geht dem Rechtsruck eine über Jahrzehnte andauernde Liberalisierung von Wirtschaft und Sexualität voraus. In der neuen Konsumkultur sind Geld und Geschlecht nur verschiedene, aber vorgeblich jederzeit und vor allem jedem mögliche Wege der Individualisierung. Dass dies auf Kosten der sozialen Sicherung geschehen sei, ist zwar faktisch nicht ausgemacht, wird aber unzweifelhaft so wahrgenommen.

7252Das war der Grund, weshalb sich im Rahmen einer wie von selbst ablaufenden Neuverteilung der politischen Karten große Teile der Unterprivilegierten jener Partei zuwandte, die sich nunmehr als einzige um sie zu kümmern schien und die zumindest einen Diskurs anbot, der versuchte, ihrer Lebensrealität wieder einen Sinn zu verleihen. (…) Meine Mutter gab schließlich, nachdem sie es lange verleugnet hatte, zu, schon einmal den Front National gewählt zu haben.

Èdouard Louis hat eine ganz ähnliche Entwicklung wie Eribon in seinem Buch Das Ende von Eddy beschrieben, ein Buch, das 2014 auf Deutsch erschien und Didier Eribon gewidmet ist. Die vertrackte Pointe aber fehlt ihm, dass die Geschlechtspolitik in den Sog der wirtschaftsliberalen Individualisierung geriet. Schließlich sorgte die digitale Neugründung für die Auflösung der alten Verbände und Stämme. Mit diesen Stämmen lösten sich nicht allein die homophoben Stammtische auf, sondern auch die linken Stammwähler verliefen sich.

Wohin sie gehen, ist bekannt. In ihrem Buch beschreibt Tanja Kuchenbecker den 1972 von Jean-Marie Le Pen gegründeten Front National, der die Kränkung des Niedergangs der Kolonialmacht Frankreich in rechtsradikale Parteipolitik verwandelte. Das Verlangen nach alter Größe blieb im Zuge wirtschaftlicher Erfolge überschaubar und historisch abgetan. In Le Pens Partei überdauerte es jedoch wie ein Kassiber.

2002 schließlich kam Le Pen bei der Präsidentenwahl auf immerhin 17 Prozent Stimmenanteil. Die Versuche der Verwandlung des Front National zu einer ganz normalen Partei durch Marine Le Pen erzählt nun Tanja Kuchenbecker. Und im Schlußkapitel betrachtet sie die internationale Rechtsfront, ihre Allianzen und Unterschiede von der AfD, FPÖ bis FIDESZ.

Didier Eribon
Rückkehr nach Reims
Suhrkamp 2016