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Mitte ohne Maß


Heinrich August Winkler
Geschichte des Westens
Die Zeit der Weltkriege 1914 – 1945
C. H. Beck 2011

Die Geschichte des Westens beginnt für Heinrich August Winkler in der Antike. So beschrieb er den ungeheuren Zeitraum von der Antike bis 1914 in einem ersten erfolgreichen Werk, das 2009 erschien. Die wichtigsten Bezugspunkte des „Westens“, wie ihn Winkler versteht, sind die Ideen von 1776 und 1789, auf die im Schlusswort und letzten Satz dieses zweiten Bandes der Geschichte des Westens hingewiesen wird, die amerikanische und die französische Revolution, genauer, die aus diesen hervorgegangen Verfassungen. Diese Ideen, deren langwierige Geburt in der Antike beginnt und die Jahrhunderte benötigten, bis sie formuliert und gelebt werden konnten, wurden innerhalb von etwas mehr als dreissig Jahren, dem Zeitraum von 1914 bis 1945, buchstäblich zerrieben.

Nach Winkler ist diese Entwicklung in vier Etappen zu erklären, die sein volumöses Werk gliedern: der Zeitraum des Ersten Weltkriegs, den er „Urkatastrophe“ überschreibt; die Zeit der Weimarer Republik, die er unter dem bezeichnenden Titel „Vom Waffenstillstand zur Weltwirtschaftskrise“ abhandelt; die Zeit des Dritten Reichs vor dem Zweiten Weltkrieg, die er auf den Antagonismus von „Demokratien und Diktaturen“ bringt; und zuletzt den Zeitraum des Zweiten Weltkriegs, den er hinsichtlich der Ideen des Westens als doppelte Vernichtung kennzeichnet: „Zivilisationsbrüche: Zweiter Weltkrieg und Holocaust“.

Dass der „Waffenstillstand“ sich bis in die Kapitelüberschrift durchsetzt, ist kein Zufall. Es ist eine der Thesen des Buches, die sich unmittelbar mit seinem resümierenden Schlusswort verbinden lässt. In diesem zitiert Winkler General de Gaulle, der bereits im September 1941 in einer Rede feststellte: „Der Krieg gegen Deutschland hat 1914 begonnen. Der Vertrag von Versailles hat ihn in der Tat keineswegs beendet. Es hat lediglich einen Waffenstillstand gegeben, in dessen Verlauf der Feind seine Angriffskraft wiederherstellte.“

Dass Deutschland als aufstrebende Mittelmacht die Ideen von 1776 und 1789 weder zu erhalten noch zu leben wusste, zeigt Winkler an vielen Stellen. Innerdeutsch wurden sie bald durch die „Ideen von 1914“ ersetzt, die zugleich die Weimarer Republik – von den Nazis als „Systemzeit“ gekennzeichnet – als bloße Atempause ihrer kurzfristig erschöpften Feinde erscheinen lassen. Nach außen hat Deutschland, umgeben vom faschistischen Block Spanien und Italien, dem kommunistischen Russland und den „westlichen“ Ländern USA, Frankreich, Polen und England, als sogenannte Mittelmacht furchtbar versagt. Ein Umfeld allerdings, das zeigt Winklers Geschichtswerk ebenso, das an der Entwicklung Deutschlands ebenso teil hatte, wie es sich von ihr beeinflussen ließ.

Die Mittelmacht Deutschland hat als Macht wie als Mitte versagt. Als Macht war sie stets unzuverlässig, wie als Mitte ohne Maß.