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Mehr Verstehen, weniger Verständnis

Timo Lochocki
Die Vertrauensformel
So gewinnt unsere Demokratie ihre Wähler zurück
Herder 2018

Bis auf ganz wenige Ausnahmen bringen Bücher, zumal in der Form des populären Sachbuchs, Ordnung in unseren Kopf. Schlicht dadurch, dass sie Sätze enthalten, die Sachverhalte in eine Reihenfolge bringen oder als Ursache und Wirkung darstellen. Darin sind sie für jeden Leser überprüfbar. Einfach darum, weil wir zurückblättern können.

In den Debatten, die uns die Populisten mit einem enormen Erfolg aufzwingen, können wir genau dies nicht. Wir können weder die Zeit anhalten – gleichsam die Lektüre unterbrechen -, noch auf eine Behauptung zurückkommen. Es geht immer weiter. Und dies mündlich, bzw. was die mediale Verbreitung angeht, quasimündlich.

Der Aufreger von gestern lässt uns baff zurück und bevor uns überhaupt eine Entgegnung einfällt, hat man längst an anderer Stelle das nächste Ding rausgehauen. All dies geschieht mit einer Unverfrorenheit und Schnelligkeit, der kaum beizukommen ist. Dass dies auch mit digitalen Medien zu tun hat, dass sie also die Bereitstellungsstruktur schaffen, die die repräsentativ-demokratischen Strukturen aushebeln, wurde hinreichend deutlich – in Büchern.

Was hat es also für einen Sinn, zu Nichtlesern im Medium des Buches zu sprechen? Keinen. Dies meint auch Timo Lochocki, der der Politik, aber auch uns, den allzu schnell einknickenden oder sich wegdrückenden Mitdiskutanten, einige Gegenmittel vorschlägt.

Dazu gehört zunächst einmal, eine eigene Kommunikationsstrategie zu entwickeln und diese mit emotionalen Narrativen auszustatten. Die alte Bescheidenheit und Zurückhaltung aufgeben, das Abwägen und Geltenlassen zurückstellen und die Überzeugungen persönlicher vertreten. Mehr Verstehen, weniger Verständnis. Die Themensetzungen der Populisten liegenlassen, nicht kommentieren oder aufgreifen.

Man möchte hinzufügen: als Linke und Konservative sich endlich wieder mit dem Kern der eigenen politischen Überzeugungen beschäftigen: Marx und Carlyle lesen!

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Nachgeholte Herkunft

Dorothee Schmitz-Köster
Raubkind
Von der SS nach Deutschland verschleppt
Herder 2018

Wie schreibt man ein Sachbuch, das nicht allein die Sachlagen schildert, sondern zugleich das, was die Sachlagen für die Betroffenen bedeuten. Wenn Klaus B. als Zwanzigjähriger von seinen Eltern per Brief mitgeteilt bekam, er sein nicht ihr leibliches Kind, sondern aus der Nazieinrichtung Lebensborn stamme, ist die eigene Herkunft ohnehin schon ein Problem. Mit den Mitteln des Romans, der Fokalisierung um genau zu sein, gelingt es Dorothee Schmitz-Köster, die tiefe Verunsicherung, das Den-Boden-verlieren von Klaus B. zu vermitteln.

Denn das Buch setzt an dem Tag ein, als Klaus B. von einer Journalistin erfährt, dass diese Geschichte seiner Eltern nicht stimmen kann. Die ältere Schwester hatte inzwischen in einem Interview geschildert, wie Klaus B. in die Familie kam – abgemagert und verwahrlost gekleidet. Dieses Interview lesend, hat sie Zweifel an der Adoption von Klaus B. aus dem Lebensborn. Sie benachrichtigt ihn und vermutet, dass er ein Raubkind ist. Zehntausende Kinder aus Polen und anderen osteuropäischen Staaten wurden von sogenannten ‚Rassespezialisten‘ ausgewählt und von parteitreuen Familien adoptiert. Klaus B. entschließt sich zur Suche nach seinen Wurzeln.

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Das Leben ist ein Kolportageroman

27641753_9783451068171_xlYvonne Schymura
Vicki Baum
So herrlich lebendig
Romanbiografie
Herder 2017

Vicki Baum entstammt einer Zeit, in der die Heranwachsenden gegen den Willen der Eltern dicke Romane lasen. So las die junge Baum die Buddenbrooks heimlich. Daher blieb dieser Generation (wie einigen Generationen nach ihnen) die Literatur und das Lesen zeitlebens mit Widerstand und Protest verbunden.

Aus der Zeit der erfolgreichen Bestsellerautorin Vicki Baum erzählt Yvonne Schymura in der Form der Romanbiografie. Vicki Baum veröffentlich bereits 1914 erste Texte, arbeitet und versteht sich aber auch immer als Journalistin. Bis zum Zeitpunkt ihrer Emigration war sie Redakteurin für Zeitschriften im Haus Ullstein. Erst 1929 hat sie mit gleich zwei Romanen Erfolg.

Vicki Baum ist als schreibende Frau die modernde und „neue Frau“ und beschreibt mit dem Roman  Stud. chem. Helene Willfüer zugleich lebensnah wie illusionslos die Arbeitswelt für Frauen. Dieser heute nur selten anzutreffende Roman ist ihr erster großer Erfolg von 1929.

Ebenfalls 1929 erscheint dann auch ihr Welterfolg Menschen im Hotel. Über die wenig glamourösen Bedingungen des Schreibens lässt Vicki Baum kaum einen Zweifel aufkommen, ist doch der Untertitel des Romans bewusst nüchtern: ein Kolportageroman, womit er ganz im Stil der Neuen Sachlichkeit bewusst als Unterhaltungsroman voller Klischees und ohne intellektuelle Ansprüche gekennzeichnet wird. Das Leben ist eben ein Kolportageroman.

Beide Romane sind verfilmt worden, erst in den 1930er Jahren in Deutschland und den USA, dann nochmals, an die nach 1933 zerstörte Tradition trotzig anknüpfend, in Deutschland in den 1950er Jahren. Yvonne Schymura erzählt das Leben Vicki Baums in der Form der Romanbiografie nach, unterhaltsam und leicht. Zitate aus Briefen, Tagebüchern und Werken sind im Text gekennzeichnet. Auch das im Übrigen eine Darstellungsform ganz im Stil der Zeit Vicki Baums.

Hier per Link zu einem Text über die neuerlich aufkommende Genre der Romanbiografie.