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Die Veranstaltung „Verstehen und verschleiern – kulturelle Unterschiede als politische Instrumente“ fand am 6. Mai 2008 in der Heinrich-Heine-Buchhandlung, Essen und am 7. Mai 2008 im Anderen Buchladen, Köln statt. Zu Gast war Joana Breidenbach mit Ihrem Buch „Maxikulti“. Moderation: Michael Schikowski. Hier können Sie die Buchbesprechungen und einige Ergebnisse dieser Veranstaltungen nachlesen und kommentieren. Eine Liste der besprochenen Bücher und einige Links finden Sie ganz unten auf dieser Seite.
1928 gründete in Ägypten ein gewisser Hassan El-Banna eine Bewegung, die später weltpolitische Bedeutung erlangen sollte: die Muslimische Bruderschaft. Aus dieser Gruppe heraus veröffentlicht Sayyid Qutb sein Buch „Im Schatten des Koran“, in dem er den Westen aus eigener Anschauung schildert als eine korrupte Gesellschaft voller sexueller Promiskuität, von einem erdrückenden Materialismus und krankhafter Profitgier erfüllt; kurz: eine Gesellschaft ohne Moral im Zustand vollendeter Dekadenz und im Schatten des moralisch überlegenen Koran. Später hat der amerikanische Historiker Bernard Lewis dies als „Kampf der Kulturen“ reformuliert, ein Begriff, der dann bei Samuel Huntington, für den Kulturen nun zu handelnden Subjekten der Weltgeschichte mutierten, als Überschrift für seine sensationell erfolgreiche Story diente, die uns die Welt erklärte.
Eine kulturelle Sicht schafft sich im Laufe von nicht einmal hundert Jahren ihre eigene Realität. Ideen, die unsere Wahrnehmungen strukturieren – was ja nichts anderes heißt, als sie in Erzählungen zu fassen – werden zu Ideen, die unsere Wirklichkeit sind. Die Ideen der Muslimischen Bruderschaft sind Realität. Dies meint jedenfalls Elie Barnavi in seinem Buch „Mörderische Religion„, in dem er die Entwicklung von Juden und Christen als Erfolgsgeschichte der Trennung von Religion und Staat erzählt. Dabei argumentiert der Franzose und gläubige Jude mit Benedikt XVI., der in seiner Regensburger Vorlesung den christlichen Glauben an die Vernunft anzuschließen und mörderische Religionen auszuschließen versucht. Barnavi macht das Zugeständnis eines gewalttätigen Kerns aller Offenbahrungsreligionen, dies jedoch allein darum, den Islam zu treffen. Warum dieser Islam nicht reformierbar sei, warum die Entwicklung des Islam zum politischen Islam, zur mörderischen Religion unumkehrbar sei, erklärt er nicht. Wollte er sich einmal mit Christiane Hoffmann der komplexen Wirklichkeit des politischen Islam stellen, wären derlei Zuspitzungen nahezu unmöglich. Barnavi argumentiert geradezu um den Preis der Aufrichtigkeit: „Im Iran hat die forcierte Modernisierung des letzten Schah zu Revolution eines Khomeini geführt.“ Ganz anders Christiane Hoffmann in ihrem Buch „Hinter den Schleiern Irans„, die sehr gut belegen kann, dass man im Iran unbeirrt und enthusiastisch am Fortschrittsglauben festhält. In der Langzeitstudie der Journalistin erfährt man viel von den verschiedenen Aspekten des Islam. Eine Studie, in der die Beobachterin selbst zum Objekt der Beobachtung wird.
Ein Aspekt dieser Diktatur, wie vielleicht jeder Diktatur, zieht sich dabei wie ein roter Faden durch das Buch: wie die sexuelle Kontrolle in diesem Land zu unkontrollierten Ausbrüchen führt, die auch die Selbstkontrolle von Christiane Hoffmann zu rechtfertigen beginnt. Ein Buch, das wie nebenher erklärt, was das Leben in einer Gesellschaft mit uns und aus uns machen kann. Dazu können Youssef Coubage und Emmanuel Todd mit ihrem Buch „Die unaufhaltsame Revolution“ eine aufschlussreiche Ergänzung bilden. In der Kombination von Schwächung der Religion, Alphabetisierung, Geburtenrückgang und Revolutionierung erblicken sie ein Schema, das ihnen die Entwicklung der islamischen Länder analog zur Entwicklung Europas verstehen hilft. Nach ihnen ist der politische Islam eben nicht im Aufstieg begriffen, was uns seine Vertreter und Gegner glauben machen wollen, sondern in einer tiefen Krise. Am Ende dieser Krise steht nach Coubage und Todd eben nicht die Diktatur der Religionsführer, sondern die Entislamisierung der arabischen Länder. Ein schleichender Vorgang, für den die Autoren viele Beispiele und statistisches Material aus verschiedensten Ländern von Japan bis Ruanda liefern. Die dazu passenden Geschichten erzählt Jason Burke in seinem Buch „Reise nach Kandahar„. Bei seinen Recherchen vor Ort diskutiert Burke mit den Mullahs der Taliban, spricht mit Sufi-Lehrern und pakistanischen Heiligen, er isst Couscous mit algerischen Mudschaheddin und trinkt Tee mit Berbern im Atlasgebirge. Aus all dem und das ist ja auch der Kern all dessen was uns interessiert, schält sich eine Theorie über den militärischen Islam heraus, die nach Burke darin besteht – typisch für den, der immer unterwegs ist – dass es keine gibt.
Nun haben wir die pauschale Verurteilung des Islam durch einen Franzosen und dagegen die differenzierte Wahrnehmung einer deutschen Journalistin vor Ort, die Analyse der Statistiker aus Frankreich gegenüber der keine Verallgemeinerung preisgebende Erzählung des reisenden Engländers. Was ist nun richtig? Gehen wir nach Deutschland und stellen den klaren Schnitt einer Einwanderin gegen die hochdifferenzierte Analyse einer Journalistin.
Für den glasklaren Schnitt steht Mina Ahadis Buch „Ich habe abgeschworen„. Frau Ahadi gründete im Februar 2007 in Köln den „Zentralrat der Ex-Muslime“. Sie erzählt in ihrem Buch zahlreiche Geschichten und Fälle, in denen die Frauen Opfer des politischen Islam sind. Wie bei Christiane Hoffmann und Jason Burke sind es hier die wahren und klaren Geschichten von konkreten Menschen und Schicksalen, von denen es immer heißt, dass sie niemanden kalt lassen.
Der Kernbegriff all dieser Bücher ist Kultur. Genau dieser Begriff steht im Zentrum des analytischen Buches „Maxikulti“ von Joana Breidenbach. Dabei haben wir gerade in Deutschland ein spezifisches Verhältnis zur Kultur, insofern wir Kultur gelegentlich als Gegenbegriff zur Zivilisation verwenden. Was wir mit Kultur meinen, ist das Überzeitliche, Ewige, mit dem wir – im Gegensatz zur Beliebigkeit zivilisatorischer Erscheinungen – an das heranreichen, was uns mit Vergangenheit und Zukunft verbindet. Diese Verständnis von Kultur ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Die Hochkultur wendete sich der Volkskultur zu, entdeckt und entwickelt sie als nationale Substanz, auf deren Grundlage sich Staaten gründen lassen. Im zweiten Schritt wird die frische Erinnerung an den Prozess der Erfindung gelöscht und der nationale Mythos schließt sich als unentstanden, überzeitlich und unhinterfragbar ab.
Peter Scholl-Latour ist es vor allem, der in seinem Buch „Zwischen den Fronten“ an den Konfliktlinien der Welt mentalitätsgeschichtlich tief eingegrabene Kulturunterschiede herausarbeitet. Scholl-Latour ist Reisender, einer der vor Ort ist und mit jedem Satz, den er schreibt, von da erzählt, wo er sich gerade befindet. Er kommt ganz ohne irgendwelche Einlassungen seiner Kollegen aus. Allenfalls werden sie genannt, wenn er sie, wie die Mehrzahl der Politiker, wegen nach seiner Ansicht falscher und traumtänzerischer Einschätzungen verspottet. Dabei neigt er mehr und mehr dazu, alle erzählerischen Faxen fortzulassen und, wie unter Zeitdruck, möglichst schnell zum Punkt zu kommen. Scholl-Latour kommt in seinen Ansichten gleich zwei Lagern sehr nahe: den islamistischen Kulturkämpfern, nach denen Europa schlicht die (im Zweifel christliche) Moral zur Verteidigung auch nur der eigenen Interessen fehle, und den Multikulturalisten, nach denen kulturelle Prägungen unverrückbar fest stehen und aus den Menschen Vollstrecker ihrer kulturellen Anlagen werden lässt.
Die großen Bucherfolge Scholl-Latours verdanken sich u.a. auch der Tatsache, dass die Kenntnis fremder Kultur in Deutschland als hohes Bildungsgut gilt. So ist das Buch „Der Koran für Kinder und Erwachsene“ auch ein paradoxes Phänomen, insofern hier Migranten und ihren Kindern eine der Hauptschriften des Herkunftlandes ihrer Großeltern in einem deutschen Verlag nahegebracht wird.
Die Kenntnis fremder Kulturen stellte das heraus, was man Weltläufigkeit nannte und produzierte ein Wissen, dass sich als tieferes Verstehen vermarkten ließ. Die Anpassungsleistungen der Urlauber an die fremde Kultur der Gastländer oder das, was sie in Reiseführeren darüber gelesen hatten, waren zugleich Ausweis von Bildung und Kennerschaft. Durch bewußte Ablehnung der Attribute, die den Tourist kennzeichnen, war man näher dran, tauchte man tiefer ein, war man der fremden Kultur näher. Hinzu kam die Idee, dass aus der Begegnung mit Fremden eine für die eigene Kultur inspirierende Kraft ausgehe. Im Vergessen darüber, dass dies immer schon – auch und gerade im Populären – so verstanden und praktiziert wurde, hielt man dies vor dreissig Jahren für eine relativ neue Erfindung. Neu ist allerdings die Wendung ins Politische, insofern nun über die Begegnung mit dem Fremden auch eine Distanz zu eigenen Positionen und Sichtweisen gewonnen werden könnte. In einer weiteren Form wurde das Verstehen des Fremden generell als Versuch der Aneignung des Fremden abgelehnt und als mehr oder weniger kritisches Geltenlassen des Fremden verstanden. Dies machte dann den Kern des Verständnisses einer multikulturellen Gesellschaft aus.
In Deutschland wurde unter dem Label „Multikulti“ aus dem Verstehen, so jedenfalls die häufig geäußerte Kritik, ein Verschleiern. Anthropologisch fundiertes Kulturverständnis sorgte dafür, dass man im Anschluss an Gehlen, Kultur als zweite Natur mit der Neigung zur Verhärtung, eines Nicht-aus-sich-herauskönnens verstand. Hier konnten einerseits alle Topoi der Kulturkritik von Schiller bis Adorno abgerufen und andererseits Kultur als bewahrenswerte, weil nur um den Preis der Entfremdung aufgebbare, Sedimentierung einer Eigenart vorgestellt werden. Dazu gehörten dann eben auch Eigenheiten, die den Menschenrechten und europäischen Vorstellungen widersprachen.
Dass dieses Verständnis, wie im Falle der eingangs genannten Autoren Lewis und Huntington, das Wahrgenommene wie bei einem Kurzschluss Wirklichkeit werden lässt, schildert Joana Breidenbach am Beispiel der Irakpolitik der USA. Hier brachte das Verständnis der Kultur dieses Landes, dass Religionszugehörigkeit alles andere bestimme, die politische Organisation des Landes nach Religionszugehörigkeit allererst hervor. Damit uns diese Kurzschlüsse an runden Tischen nicht in Deutschland ereilen, gibt uns Joana Breidenbach einen guten Prüfstein für kulturelle Argumentationen: Kulturelle Vorlieben sind schützenswert, weil sie Ausdruck einer individuellen Wahl sind und nicht weil sie durch eine Gruppe legitimiert werden.
Für uns Heutige ist Kultur weniger ein Überbau oder Gegenstand einer Weltanschauung, viel mehr ist sie inzwischen eine Art von Infrastruktur erlebnisorientierter Angebote, die in der bloßen Dichte von Festivals, Ausstellungen und Theater ihren eigenen quantitativen Gradmesser besitzt. Darin zeigt sich auch, dass das Wissen über fremde Kulturen ein entscheidender Bestandteil unserer eigenen Kultur ist. Wofür auch Hans Jansens „Mohammed“ ein Beispiel sein mag, einer aus dem Niederländischen übersetzten Biographie, die vor aktualisierenden und zeitgeschichtlichen Bezugnahmen auf die Ereignisse in den Niederlanden nur so strotzt. Wenn man also gelegentlich fragt, ob man sich auch in arabischen Ländern so für Jesus interessiere, kann das schon sein, zeigt aber zugleich, dass der oder die Fragende ein möglicherweise spezifisches Element unserer Kultur nicht im Blick hat. Man sehe sich aber darauf hin auch einmal Produkte wie Fersehreportagen, die Verkaufszahlen der oben genannten Sachbücher oder einfach nur einen Jahrgang von GEO genauer an. Das Ergebnis könnte sein: Unsere Kultur ist eine Kultur des Fremdverstehens.
Gegen solche Reduzierung von Kultur auf Funktionsleistungen formulierte Martin Mosebach einmal: „Kultur heißt, einen Baum zu pflanzen aufgrund von Erfahrungen, die man nicht selbst gemacht hat, damit er Früchte hervorbringe, die man nicht selbst ernten wird.“ Jedoch, das ist nicht Kultur, das ist nicht einmal kulturelles Gedächtnis mehr, das ist Max Webers Auffassung von Wissenschaft okuliert vom Schönwettergärtner deutscher Kulturlandschaften. Da ist Heiner Müller vielleicht näher auch an unseren neuen, heftigen und manchmal auch tödlichen Kulturkämpfen: „Es geht darum, dass die Toten einen Platz bekommen. Das ist eigentlich Kultur.“
Die genannten Bücher:
Mina Ahadi, Ich habe abgeschworen (Heyne)
Der Koran für Kinder und Erwachsene (übersetzt und erläutert von Lamya Kaddor und Rabeya Müller) (Beck)
Elie Barnavi, Mörderische Religion (Ullstein)
Joana Breidenbach, Pál Nyíri, Maxikulti (Campus)
Jason Burke, Reise nach Kandahar (Patmos)
Youssef Courbage, Emmanuel Todd, Die unaufhaltsame Revolution (Piper)
Christine Hoffmann, Hinter den Schleiern Irans (Dumont)
Hans Jansen, Mohammed. Eine Biographie (Beck)
Peter Scholl-Latour, Zwischen den Fronten (Propyläen)
Links:
Zur Homepage von Joana Breidenbach mit weiteren Veröffentlichungen und Terminen.
Zur von Joana Breidenbach mit ins Leben gerufenen Hilfsorganisation betterplace.org.
Eine hilfreiche Handreichung für einige der oben formulierten Überlegungen verdanke ich Peter J. Brenners online nachlesbaren Aufsatz: Kulturanthropologie und Kulturhermeneutik: Grundlagen interkulturellen Verstehens. Ein Zwischenbericht, von Oktober 1999.