// Bücher
Romina Raske, buchhändlerische Auszubildende, schreibt über Ferdinand von Schirach:
Ferdinand von Schirach
Schuld. Stories
Piper 2010
Ferdinand von Schirach arbeitet seit 1994 als Anwalt und Strafverteidiger in Berlin. In seinem Buch beschreibt er Fälle, die ihm in seinem Berufsalltag begegnet sind. Dabei scheinen die einzelnen Mandate geradezu unglaublich und lassen seinen Leser nicht selten nachdenklich oder auch wütend zurück. Da geht es zum Beispiel um die Vergewaltigung eines Mädchens und die Täter kommen ohne Strafe davon oder in einem anderen Fall sitzt ein Mann unschuldig im Gefängnis, da die Aussagen der Zeugen glaubwürdig waren.
Schirach wirft in seinen fünfzehn Kurzgeschichten Fragen nach Schuld und Unschuld, angemessener Strafe und unserem Rechtssystem auf, die schwer mit einer Pauschal-Antwort abgefertigt werden können. Zu komplex die Thematik, zu speziell der Einzelfall und zu unterschiedlich die individuellen Meinungen.
Mit Schuld veröffentlicht Schirach neben Verbrechen bereits den zweiten Band mit Kurzgeschichten dieser Art. Und auch in diesem Band besticht wieder die sachliche, zurückgenommene, schnörkellose Schreibweise Schirachs, die unglaublich gut zu seinen Fällen passt und den Leser gerade deshalb so sehr in seinen Bann zieht.
// Bücher
Stephanie Cooke
Atom
Die Geschichte des nuklearen Zeitalters
Kiepenheuer & Witsch 2010
Merle Hilbk
Tschernobyl Baby
Wie wir lernten, das Atom zu lieben
Eichborn 2011
Hubert Mania
Kettenreaktion
Die Geschichte der Atombombe
Rowohlt 2010
Stephanie Cooke schreibt eine elegante Gesamtdarstellung unseres nuklearen Zeitalters. Eine Geschichte wie aus einer megalomanen Urzeit.
Merle Hilbk berichtet in ihrer Reportage vom Ort dieses Futurismus vergangener Zeiten. Im April 2011 ist es fünfundzwanzig Jahre her, dass die ohnehin als kaum erquicklich empfundene russische Landschaft unbegehbar wurde.
Eine Landschaft, in die man sich diejenigen wünscht, die atomare Gefahr mit Verkehrsunfällen oder Opfern des Kohleabbaus vergleichen. Ein starkes Buch, wenn auch keines für Frühlingsgefühle.
Zur militärischen Vor- und Begleitgeschichte des Atoms nur noch der Hinweis auf das großartige Buch von Hubert Mania.
// Bücher
Henning Ritter
Notizhefte
Berlin Verlag 2010
„Das meiste wird notiert, weil es vielleicht noch zu etwas dienen kann. Das ist die Verfahrensweise des Bastlers, der scheinbar sinnlos Dinge anhäuft und dabei nicht nach einem Plan verfährt, vielmehr es den Dingen ansieht, daß sie für künftige Vorhaben taugen werden.“ Dieses Vorhaben, zu dem die hier versammelten Texte taugten, ist dieses Buch selbst.
Wenn ein Preis für dieses Buch zu vergeben wäre, müssten ihn die Buchgestalter entgegen nehmen. Titelung, Bindung und Gestaltung sind von einer manipulativen Kraft, der man sich kaum zu entziehen weiß. Erst wenn man zu lesen, zu blättern beginnt, wird einem bewußt, wie hoch, vielleicht auch hochtrabend, der Anspruch dieser Texte ist. Denn natürlich sind es die Freunde, die Henning Ritter zur Veröffentlichung rieten. Natürlich! Was wäre der, der hier abrät?
Ohne Dummheiten
Werden aber die Ansprüche, die buchstäblich mit Händen zu greifen sind, eingelöst? Nein! Wer wie Ritter die Zeitgeschichte derart ausklammert, den höheren Tratsch aus seinen Notizen verbannt, die Entblößung der Kollegen unterdrückt, der Entlarvung seiner selbst nicht fähig scheint, der lässt die Probe nicht zu, die jedem Klassiker obliegt, durch die Gegenwart in die Zukunft, durch die Einzelbeobachtung zum Prinzipiellen durchzustoßen. Ritter umgeht das und steuert sein Ziel direkt an.
„Man weiß nicht, ob diese Dummheit nicht der Vorläufer einer kostbaren Einsicht ist, ob nicht dieses Zitat einen eigenen Gedanken anregt.“ Das Buch enthält aber keine Dummheiten.
Indem er diese fast alle ausstreicht und, wie er im knappen Vorwort sagt, nur „ein Zehntel der Aufzeichnungen“ veröffentlicht, fragt man sich, was sich dort noch fand? Eine ungehörige Frage. Herausgestellt wird hier das konservative Denken. Ritter liest Cioran, Nietzsche, Spengler, Gasset, Montaigne, Schopenhauer, Le Bon, Schmitt, Burke, Gehlen, Bataille, de Maistre und Ernst Jünger, Thomas Mann und Gottried Benn, und natürlich auch viel anderes. Ein Tag in Ritters Bibliothek, ein toller Tag.
Texte im feinen Zwirn
Auf der Rückseite des Umschlags wird die Schreibmotivation Ritters zur Lesemotivation verlängert: „Ich studiere Autoren nicht, ich versuche vielmehr, sie zu erraten. Mich interessiert nicht die Seite, die sie mir zuwenden, sondern die, die sie vor mir verbergen.“ Eine Haltung, die unterstellt, dass die uns zugewandte Seite der Autoren ohnehin verständlich sei und darin zugleich das Versprechen verpackt, dass hier lauter extraordinäre Seite der Autoren zu entdecken seien.
Das Buch ist in feinstes herrengraues Leinen eingebunden, mit nicht einem, sondern gleich zwei verschiedenfarbigen Lesebändchen und in einen Schutzumschlag gebracht, der Autor und Titel wie in Stein gemeißelt erscheinen lässt. Dazu noch eine vorgeblich schlichte, in Wahheit aber prahlerische Buchbinde, die das Buch kurz als „Klassiker der Gegenwart“ (Zeit) charakterisiert und auf der Rückseite von einem „riesigen, bislang ungehobenen Schatz“ (Faz) spricht. Kleiner geht es, bei soviel Zierrat der Vornehmheit, wohl nicht.
Ritters Werkextrakt
Der Titel zeigt den ganzen nonchalanten Widerspruch in einem Wort, das Buch heißt „Notizhefte“. Beides stimmt zweifellos nicht, weder handelt es sich, bei dem was vorliegt, um beiläufige Notizen, noch um irgendwelche Hefte.
Gedruckt auf Papier, das fast Dünndruckpapier ist, hält man so ein schmales und überraschend schweres Buch in Händen, das auf reichlich über vierhundert Seiten kommt. Nicht wenig trickreich wird so eine große Werkausgabe simuliert, aus der wir hier die handliche und das Wesentliche enthaltende Leseausgabe bekommen.
Eine etwas zu selbstbewußte Gestaltung, die ziemlich umstandslos den Klassiker nahelegt. Texte, wie in Grauwacke gemeißelt. Und so kommt es, dass man diese großartigen und anregenden Texte gegen die raffinierte Überwältigungsrhetorik des Buches als Handschmeichler fast verteidigen muss.