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Und wie läuft’s privat so?

Kristof Magnusson
Arztroman
Kunstmann 2014

Magnussons Buch ist ein Gegenwartsroman. Das bedeutet, dass er all das aufweist, was unsere Gegenwart gerade so hergibt. Viel Ordung und ab und an ein wenig Chaos, ein Ausfall, ein Absturz. Etwas, das immer rasend schnell wieder in Ordnung gebracht wird. Vom Notarzteinsatzfahrzeug zum Beispiel.

Die Verteilung ist dann häufig so: Im Beruflichen herrscht Ordnung, das Chaos bricht eigentlich nur im Privaten ein. Wer kennt das nicht?

So ist das auch bei Dr. Anita Cornelius, die im Notarzteinsatzfahrzeug zu den privaten Katastrophen der anderen fährt und in einer von Magnusson großartig genau beschriebenen Art und Weise die Anamnese und Rettung der Patienten organisiert. Immer Einsätze in das tiefste Privatleben der anderen. Berufliche Professionalität stößt auf sehr private Totalausfälle.

Und wie läuft’s so privat bei Anita? Sie ist geschieden und Mutter eines Sohnes. Der Sohn lebt beim Vater und seiner neuen Frau Heidi. Dort ist mehr Platz. Dort ist mehr Zeit. Dort ist ein neuer Einfluss auf den Sohn Lukas spürbar, der Einfluss der neuen Leistungsgesellschaft, die Schwäche unverzeihlich findet und Härte fordert.

„Heidi hatte gewonnen. Die Heidis dieser Welt gewannen immer. Sie sorgten vor, lebten gesund und dadurch länger als alle anderen, damit sie mehr Zeit hatten, ihren selbstoptimierten Wahnsinn unter die Leute zu bringen. Die Besserwisser wurden älter als die Lebenslustigen, so heidisierte sich die Welt.“

Magnusson erzählt von Arbeit und Familie. Er erzählt wie auch Anita der Ausgleich misslingt, in einer heidisierten Welt, die gewiss nicht ohne Grund an Heidi Klum erinnert – wie Familie in Arbeit und Arbeit in Familie übergeht, wie Familie zur Beziehungsarbeit wird, wie Arbeit etwas Familiäres bekommt.

Anita Cornelius ist die Heldin dieses ironisch Arztroman genannten, klug und klar erzählten Buches. Im Genre des Arztromans ist der Arzt noch Muster und Vorbild für Work-life-balance, die nur dann gelingt, wenn man Berufliches und Privates auseinanderhalten kann. War früher einmal das Private politisch ist es nun dienstlich.

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Dass keiner allein herumläuft

Beim Fußball von einer reduzierten Komplexität zu sprechen, die uns von der erhöhten Komplexität der Lebenswelt entlaste, ist schon länger nicht mehr gut möglich, ganz sicher nicht mehr seit Rainer Moritz‘ Abseits. Christoph Biermann zeigt zudem, dass es zahlreiche Berechnungsversuche des Fußballs gibt, eine Fußball-Matrix gar, bei der entscheidend ist, dass – wie Felix Magath formulierte – „keiner allein herumläuft“.


Tor! Tor! Tooooooooooooor!

Metin Tolan verspricht mit einer Physik des Fußballs: So werden wir Weltmeister! Wie und wann wir aber alle zusammen miteinander Fußball spielen und herumlaufen und wo nicht, zeigt schließlich Gunter Gebauer in seiner faszinierenden Sozialphysik des Fußballs. Dabei gibt es klare Festlegungen, wo gespielt werden darf und was genau ein Tor ist und was man nur irrtümlich dafür halten könnte.

Christoph Biermann
Die Fußball-Matrix
Kiepenheuer & Witsch 2009

Gunter Gebauer
Poetik des Fußballs
Campus 2006

Rainer Moritz
Abseits
Kunstmann 2010

Metin Tolan
So werden wir Weltmeister
Piper 2010

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Musik macht weise

Joe Boyd,
White Bycicles
Kunstmann 2007

In diesem Buch des Musikproduzenten Joe Boyd bekommt man nichts weniger erzählt als die Geburt des Rock. Neben der Richtigstellung einiger Mythen (Pete Seeger hackte nicht das Kabel der E-Gitarre von Bob Dylon durch!), erfährt man fast alles über den Unterschied der Musikkultur von Amerika und England – nur in England verursachte der Konsum von Dope die charakteristischen Haschischbrandflecken auf dem LP-Cover – und die Entstehung und den Arrangements der Platten von Nick Drake, über die ich dann mit meinem Nachbarn plauderte. All dies und weitere zahllose Einzelheiten erzählt Joe Boyd wunderbar leicht, nebenher und lässig. Nur aus aktuellem Anlass sei hinzugefügt: Boyd benötigt gerade mal fünf unaufgeregte Seiten seine Erfahrungen und Erkenntnisse über die grausliche Scientology-Sekte mitzuteilen. Der Umgang mit Musikern und Musik macht nun wirklich cool und vielleicht auch weise.