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Der dünne Faden Erinnerung


Patrick Modiano
Gräser der Nacht
Roman
Hanser 2014

Hat dieser Roman eine Handlung? Sofern sich der Erzähler, der junge Mann Jean daran erinnert. Sofern ihm an einem bestimmten Platz, einer bestimmten Metrostation in Paris etwas einfällt. Oder er eine Notiz in seinem schwarzen Notizbuch findet, das er vor etlichen Jahrzehnten füllte. Und dann gibt es noch dieses Buch, das dieser Jean gerade schreibt.

Eine Handlung findet an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit statt. In der Erinnerung aber ist die Einheit des Ortes und der Zeit stets aufgehoben, diese Metrostation erinnert an eine andere an einem anderen Ort, diese Bemerkung erinnert an eine andere zu einer anderen Zeit. Ihre Verbindung ist nichts als dieser überaus dünne Faden Erinnerung.

Jean begegnete in den 1970er Jahren der Studentin Dannie. Sie steht in Verbindung zu politisch aktiven Kreisen aus Marokko. Jean beobachtet diese Leute: „Sie standen nur wenige Zentimenter von mir entfernt hinter der Glasscheibe, und der andere, mit seinem Mondgesicht und seinen harten Augen, sah mich genauso wenig. Vielleicht war die Scheibe von innen undurchsichtig, wie Einwegspiegel. Oder es trennten uns ganz einfach zig Jahre, sie waren festgefroren in der Vergangenheit, mitten in diesem Hotelfoyer, und wir lebten nicht mehr, sie und ich, in derselben Zeit.“

In fast jeder Zeile dieses Romans sind die Handlung und die Personen zugleich diese, von der gerade gesprochen wird, wie auch die der Erinnerung. Und in Jeans Notizbuch ist die gerade geschilderte und stattfindende Handlung, das darin Gesagte und die Begegnung eine Erinnerung. In der Erinnerung sind die Handlungen alle zugleich, wie in diesem Augenblick der Erzählung, die Personen hinter der Glasscheibe stehen und zugleich in der Vergangenheit.

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Das beste Sachbuch und die besten Sachbücher 2014

Ausgezeichnet werden für das Jahr 2014 Bücher in den folgenden Kategorien: erzählendes naturwissenschaftliches Sachbuch, erzählendes historisches Sachbuch, Reportage, Essay, Biografie, Autobiografie und Ratgeber.

Die besten deutschsprachigen Sachbücher des Jahres werden bereits seit 2008 auf dieser Seite präsentiert. Zu den prämierten Büchern der vergangenen Jahre am Ende dieser Seite. Ein Preisgeld steht nicht zur Verfügung. Jury: Michael Schikowski.

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Kategorie bestes erzählendes naturwissenschaftliches Sachbuch

Eine populär geschriebene Beziehungsgeschichte, die keine Facette ausspart.

Christina Hucklenbroich
Das Tier und wir
Einblicke in eine komplexe Freundschaft
Blessing 2014

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Kategorie bestes erzählendes historisches Sachbuch

Müchlers schmales Buch widerrät hier einmal der verbreiteten Neigung zum Wälzer, die vor allem historische Schriftsteller befällt. Müchler erzählt ebenso knapp wie klar.

Günter Müchler
Napoleons Hundert Tage
Theiss 2014

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Kategorie beste Reportage:

Wolfgang Büscher beweist was atemberaubendes Erzählen gegenüber atemloser Benachrichtigung zu leisten vermag.

Wolfgang Büscher
Ein Frühling in Jerusalem
Rowohlt Berlin 2014

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Kategorie bester Essay:

Die glasklare Analyse der schweigenden Mehrheit, nicht aber die Erzählung, die sie zu ihrer Beruhigung benötigte.

Heinz Bude
Gesellschaft der Angst
Hamburger Edition 2014

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Kategorie beste Biografie:

Susanne Kippenberger hat sich mit diesem wunderbar lesbaren Buch endgültig in den obersten Rang des deutschsprachigen Sachbuchs geschrieben.

Susanne Kippenberger
Das rote Schaf der Familie
Jessica Mitford und ihre Schwestern
Hanser Berlin 2014

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Kategorie bestes autobiografisches Buch

An einer Stelle spricht Strauß bei seinen Erinnerungssplittern an seine Kindheit in Bad Ems passend von “Prosascherben”. In der Sprache dieses Autors behalten alle diese Scherben ihre Farbe und Schärfe.

Botho Strauss
Herkunft
Hanser 2014

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Kategorie bester Ratgeber

Ein großartiges Hausbuch und notwendiges Familienlesebuch.

Udo Baer, Gabriele Frick-Baer
Das große Buch der Gefühle
Beltz 2014

Hier zum besten Sachbuch und den besten Sachbüchern der Jahre 2013,
2012
, 2011, 2010, 2009, 2008.

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„Ja, ich sah noch das Hutziehen, das Hutziehen der Lehrer“

Botho Strauß
Herkunft
Hanser 2014

An einer Stelle – und dieses Buch ist voller Stellen – spricht Strauß bei seinen Erinnerungssplittern an seine Kindheit in Bad Ems passend von „Prosascherben“. In der Sprache dieses Autors behalten alle diese Scherben ihre Farbe und Schärfe.

Und der äußere Anlass für diese Prosa ist gar nicht weit weg von dem, was derzeit viele beschäftigt. Das Altern der Eltern, ihr Umzug in ein Altersheim und die Auflösung ihrer Wohnung, in der man aufwuchs. Darin vermutlich lauter aus der Zeit gefallene Gegenstände, die mit Handlungen und Gesten verbunden sind, wie das „Hutziehen der Lehrer“ und die Utensilien eines Schreibtischs.

„Zwar kann man viele belastende Gegenstände zum Zweck des Briefebeschwerens verwenden. Man kann indessen nicht einen Briefbeschwerer zu beliebigen anderen Zwecken benutzen. Das ist die unvorteilhafte, schwache Stellung dieses nicht allzu charakteristischen Gegenstands in der Welt der anwendbaren Dinge. Leicht zu verdrängen. Schmalste Nutzbestimmung.“

Briefbeschwerer und Hutziehen, Gegenstände und Gesten leben in der Erinnerung noch ein wenig fort, um dann zu verschwinden, an der Gegenwart zu scheitern.

Elemente der Herkunft, mit schwacher Stellung haben sie noch kurzen Aufenthalt allenfalls im Medium der Kunst. „Morgen“, so heißt es am Schluss, „wird die Wohnung entrümpelt.“