// 2019

// Bücher

Was haben die Russen mit der russischen Geschichte zu tun?

Jewgeni Wodolaskin
Luftgänger
Roman
Aufbau 2019

Jeder große Roman zeigt das Leben und stellt prinzipielle Fragen. Luftgänger ist ein großer russischer Roman. Und so fragt er nach der Wahrheit der Erinnerung. Die Wahrheit sind nicht die Bilder, sondern die Geräusche. Die Bilder der Lager, die man im heutigen Russland verwendet, überdecken die Wirklichkeit eher, als dass sie wirklich einen Eindruck vermittelten.

Die schwarzweißen Figuren, die über den Bildschirm laufen, haben auf merkwürdige Weise nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun, sie sind nur ihre verblassten Zeichen. Wie die Höhlenzeichnungen auf Felsen – Tiere und Menschen –, sie sind interessant und ähnlich, nur erzählen sie nichts vom Leben damals. Du betrachtest sie und erfährst lediglich, dass die Bisons Vierbeiner waren und die Menschen Zweibeiner – genau wie heute.
Der Erzähler, Innokenti Petrowitsch Platonow, sieht die Wahrheit nicht in den Bildern der GPU, sondern in den Geräuschen derjenigen, die die Geschichte an ihrem eigenen Leib verspüren:

Die Geräusche von Solowki aber waren – der Aufprall eines Kopfes auf eine Pritsche, wenn ein Aufseher hereinkam, einen Häftling an den Haaren packte und ihn gegen den Pritschenpfosten schlug, so lange, bis er nicht mehr konnte; oder das Knacken der Läuse, wenn sie mit dem Fingernagel zerquetscht wurden. Es gab auch Gerüche. Nach zerquetschten Wanzen. Nach ungewaschenen Körpern – wir arbeiteten ja täglich bis zur Erschöpfung, wuschen uns aber fast nie. Und das alles vermischte sich zu einem Geruch der Verzweiflung, zu Farbe und Geräusch der Verzweiflung, denn es ist ein Irrglaube, dass sie im Inneren verborgen und den Sinnesorganen nicht zugänglich sind.

Ist Russland durch Bilder der vorgeblichen Wirklichkeit und den Mangel an den Geräuschen der Verzweiflung von seiner Erinnerung abgeschnitten? Es scheint so. Es braucht also Helden, diese Wirklichkeit wieder zurückzuholen. Und Romane, die das Experiment eingehen.

Innokenti Petrowitsch Platonow ist so ein Held. Er wurde im sowjetischen Gefangenenlager Solowki dazu auserwählt, in einem Forschungsexperiment des Labors für Zellkrynologie und Regeneration in Russland, kurz: LAZARUS, eingefroren zu werden. Als 1900 Geborener erlebt er die politische Anarchie, die auf das Zarenreich mit den Bolschwiken folgte und zur Diktatur Stalins führt. 1999 wird er, Russland durchlebt gerade in der Jelzin-Ära eine neue Periode der Anarchie, diesmal eine vor allem wirtschaftspolitische, wieder aufgetaut.

Sein Arzt ist Dr. Geiger, mit dem sich Innokenti zahlreiche Auseinandersetzungen darüber liefert, wie es zu den Katastrophen und Gewalttaten in Russland kommen konnte. Innokenti meint darum an einer Stelle über Geiger: Mir scheint, er hat die merkwürdige Vorstellung, dass uns der Strick jedes Mal von jemandem übergeworfen wird. Dass nicht wir selbst ihn uns drehen. Ein wahrer Anwalt des russischen Volkes … Dabei hat er oft von seinen Hoffnungen erzählt: Wenn die Sowjetmacht erst weg ist, dann werden wir richtig leben! Und – lebt ihr jetzt richtig? Die Sowjetmacht ist schon so viele Jahre weg – lebt ihr jetzt richtig?

Den Zusammenhang zwischen dem Zustand Russlands unter Jelzin und dem Russland am Beginn der Revolution stellt Wodolaskin durch den wiedererwachten Helden her. Auch ihr Beginn war kein Zufall, daran erinnere ich mich doch genau. Heute nennt man die Bolschewiki „eine Handvoll Verschwörer“. Aber wie konnte „eine Handvoll Verschwörer“ ein tausendjähriges Reich stürzen? Das heißt doch, der Bolschewismus kam nicht von außen zu uns.

Innokenti hat die Einzelschicksale und ihre Motive, die den Terror Stalins erst ermöglichen, sehr deutlich vor Augen, der eine sucht Bestätigung, der andere ist neidisch und wieder andere sind geldgierig. All dies scheint das Verhalten der Einzelnen auch in diesem Roman zu erklären. Sarezki, der nach den berüchtigten Verdichtungen des Wohnraums in Petersburg, die Mitbewohner denunziert, ist ein Rätsel.

Aber warum hat Sarezki denunziert – aus prinzipiellen Überlegungen? Er hatte doch keine Prinzipien (und Überlegungen vermutlich auch nicht). Geld? Nein, er hat keins bekommen. Im Suff hat er ja selbst mal zu mir gesagt, er wisse nicht, warum er denunziert hat. Aber ich weiß es: Aus einem Übermaß an Dreck in seinem Inneren. Dieser Dreck hatte sich in ihm angehäuft und auf die geeigneten gesellschaftlichen Umstände gewartet, um hervorzubrechen. Und die waren gekommen.

Im Russland Jelzins herrschen nun neue Umstände, jetzt ist es die Werbeindustrie, die aus Innokenti einen Bofrostmann des Ostens macht, und es sind die politischen Institutionen, die ihn für sich zu gewinnen suchen. Sheltkow sagte, er habe ein interessantes politisches Projekt für mich. Ich als starker, abgehärteter Mann (meint er den Stickstoff?) könne nützlich sein … Ich ließ ihn nicht ausreden und sagte, ich sei vor allem ein unpolitischer Mann.

Mit dieser Entscheidung wird er für den Staat uninteressant. Dieser Staat und seine Bewohner interessieren sich nicht für ihre Geschichte und die Frage, was sie damit zu tun haben. Es formt sich bereits der Staat, der den abgehärteten Mann sucht und ihn in Putin finden wird. (April 2019)

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Verrat und Verkleidung

 

Joseph Roth
Beichte eines Mörders erzählt in einer Nacht
Mit fünfzig Illustrationen von Klaus Waschk
Faber und Faber 2019

In diesem Roman von Joseph Roth, der 1936 zuerst erschien, erzählt der Spitzel und Mörder Goluptschik sein Leben. Er berichtet, sich selbst nicht schonend, wie er durch das Schicksal seiner Abkunft vom Fürsten Krapotkin bestärkt, dem Leben in Armut und im Abseits zu entkommen versucht und dabei ein Spitzel und Mörder wird. Sein Bericht in der kleinen Pariser Emigrantenkneipe „Tari-Bari“ dauert, unterbrochen nur vom gelegentlichen Nachschenken, bis in den nächsten Morgen – in der Emigration ist Zeit ein in Überfülle vorhandenes Gut.

Die Illustrationen von Klaus Waschk lassen diese Erzählung zu einem Erlebnis eigener Art werden. Woran liegt das? Der Bericht Goluptschiks, wenn man ihn sich nochmals erinnernd vor Augen führt, erscheint durch Waschks Bilder wie ein Fiebertraum, ist Goluptschik doch von dem Wahn erfasst, sein Leben nur als Krapotkin führen zu können.

Zugleich portraitiert Waschk in seinen Illustrationen unverkennbar den Erzähler Roth, in einem Modeschneider erkennt man Lagerfeld, in einem Mitarbeiter der Ochrana, der zaristischen Geheimpolizei, sieht man Putin. Doch das sind nur Erinnerungen daran, nicht von der geschichtlichen Ferne des Erzählten auszugehen, sondern Verrat und Verkleidung als höchst gegenwärtig aufzufassen.

In der Illustrationsweise von Klaus Waschk, im Verwischen und Ausstreichen, im Unkenntlichmachen und Doppeln, aber auch in der Auszeichnung eines Details, gelingt es ihm, die düster-verrauchte und schnaps-ehrliche Atmosphäre der Erzählung zu zeigen. Was von der Erzählung bleibt, ist der Verrat des Goluptschik, der Rest ist wie der Name der Kneipe „Tari-Bari“, den man auch als Larifari wiedergeben könnte, leeres Gerede.

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Die Carl Schurz Story

 

 

Andreas Kollender
Libertys Lächeln
Roman
Pendragon 2019

Carl Schurz war im 19. Jahrhundert Teil der großen Auswanderungswelle aus Deutschland, deren Ziel vor allem Nordamerika war. Der Grund war häufig, wie im Falle Schurz, politischer Natur, häufiger aber noch wanderten ganze Dörfer und Großfamilien wegen Hungersnöten aus. Deren Ursprung lag allerdings auch nicht selten in den politischen Verhältnissen.

Unter den Auswanderern, die man später die German-Americans nannte, waren für die amerikanische Wirtschaftsgeschichte so bedeutende Unternehmer wie Levi Strauss, Henry J. Heinz oder John Jacob Astor. Für die politische Geschichte wäre an erster Stelle Carl Schurz zu nennen. Er wird Senator und als erster deutscher Einwanderer Innenminister.

Blieben die einen der deutschen Herkunftskultur weiterhin treu und siedelten in eigenen Stadtteilen wie Little Germany auf Manhattan, fühlten viele sich doch rasch der amerikanischen Kultur der Vereinigten Staaten zugehörig und prägten sie zugleich. Was einem politischen Kopf wie Carl Schurz oft genug zum Vorwurf gemacht wurde, wovon der Anfang des Romans über Carl Schurz von Andreas Kollender zeugt. Carl Schurz steht für das andere Amerika.

Carl Schurz wurde in Liblar (Erftstadt) geboren, ging in Brühl und, untergebracht in einer Handwerkerfamilie, in Köln zur Schule. Kurz vor der 1848er Revolution begann er sein Studium an der Universität Bonn. Nach ihrem Scheitern flieht er über London nach Amerika. In London lernt er seine Frau Margarete Meyer kennen. Sie eröffnete 1856 den ersten Kindergarten in den USA.

Andreas Kollender lässt uns in seinem Roman an den bedeutenden und spannenden Stationen des politischen Lebens von Carl Schulz teilhaben, des Wahlkampfs für Lincoln, des Kriegseinsatzes im amerikanischen Bürgerkrieg, der Sklavenbefreiung, des Einsatzes für die Rechte der Indianer und, zusammen mit Mark Twain, der Gegnerschaft der neuen kriegerischen Außenpolitik der Ära Theodore Roosevelt.

Über die Bedeutung von Carl Schurz für uns heute kann also kein Zweifel bestehen. Zumal er auch noch ein Pionier in seinem Einsatz für die Umwelt und die Ressourcen der Vereinigten Staaten war.