// 2019

// Bücher

Goldfasan

 

 

Michael Jensen
Totenland
Kriminalroman
atb 2019

Unbestreitbar ist historisches Grundwissen hilfreich. Jedoch steht dieses Wissen manchmal der Vorstellung im Wege, dass es neben der ‚Geschichte‘ für die Menschen auch einen Alltag gegeben hat. Dieser musste irgendwie unbeeindruckt von den Ereignissen, weiter gelebt werden.

So stellt dieser Kriminalroman seinen Ermittler Jens Druwe mitten in eine Zeit, in der man sich kaum vorstellen kann, dass es einen Alltag gab, einen Alltag der geordneten polizeilichen Täterermittlung zum Beispiel. Druwe, 1943 schwer verwundet, ist abgeschobener Revierhauptmann in der tiefen Provinz, die im April 1945 für die hohen Parteifunktionäre nun plötzlich attraktiv wird. Alle wollen aus dem Rampenlicht und treffen Vorsorge für die Zeit nach dem Zusammenbruch.

Ihr Mittelsmann aber, Gerhard Lessling, im Jargon der Nazis ein Goldfasan, weil Profiteur des Regimes, wird tot aufgefunden. Rache der NS-Gegner? Ein politischer Häftling auf der Flucht aus dem Lager? Jens Druwe ermittelt inmitten einer zusammenbrechenden Welt.

// Bücher

Im Land der Blassen

 

 

 

Mahir Guven
Zwei Brüder
Aus dem Französischen von André Hansen
Roman
Aufbau 2019

Ausgezeichnet mit dem Förderpreis zum Straelener Übersetzerpreis 2020 der Kunststiftung NRW.

 

Wozu sind Romane gut, als die Perspektive eines anderen einzunehmen. Wenn es die zwei Brüder nur mit Mühe schaffen, einander so verstehen, dass der eine nicht die Katastrophe des anderen wird, dann ist schon viel erreicht. Ist der Ältere mit dem Vater überkreuz, weil er nicht Taxi fährt, sondern bei Uber anheuert, ist der Jüngere derjenige, den die kommunistischen Überzeugungen des Vaters kalt lassen und der im Koran neue Überzeugungen gewinnt.

Beide wenden sich vom Vater ab und zugleich ihm zu, da sie sein Leben fortführen, in der Ideologie und im Berufsleben, nur mit einigen entscheidenden Änderungen. Beide erleben die Widrigkeiten der Kinder Pariser Banlieue, der Ältere kommt aus der kriminellen Karriere heraus – durch den Polizisten Le Guen, der ihn allerdings auch als Informanten aus dem Milieu verpflichtet.

Je mehr Zeit verging, umso mehr wurde ich wie der Alte, ein Arschloch von ‚Kom-mu-nist‘. Weil ich an der amerikanischen Traum geglaubt habe. Im fairen Wettbewerb ein Steak erringen. Aber das war dann schnell für den Arsch. Über einen Gast im Auto schreibt er: Er ist irgendwo bei Marx-Dormoy aus meinem Auto gehüpft. Wie ein Immobilienmakler hatte er versucht, mir sein Viertel zehn Minuten lang schmackhaft zu machen. So Dinger machen die Blassen, leben in einem Viertel voller Fixer und sagen, sie mögen den Mix hier.

Der Jüngere verschwindet nach ‚al-Scham‘, wie sie im Viertel sagen. Viele sprechen das Wort ängstlich aus. Andere – na ja, Einzelne – sind ganz ekstatisch. In der Welt der Normalen sagen sie Syrien, mit erstickter Stimme und ernstem Blick, als sprächen sie von der Hölle. Dort schließt sich der Jüngere der Kämpfern gegen Assad an, als Pfleger und später in der Funktion des Arztes. Den Emir des Gebiets, in dem das Krankenhaus betrieben wird, nennt er Blondbart.

Beide gewinnen neue Väter, die sie beeinflussen, und die sie verraten, verraten müssen, um sich zu retten. In „Zwei Brüder“ gewinnen beide auf unvorhergesehene Art und Weise die Herrschaft über ihr Leben zurück. Mahir Guven dringt tief ins Milieu ein, mit den Mitteln des Thrillers.

// Bücher

Die neue Arbeitsplatzbeschreibung

Elizabeth Anderson
Private Regierung
Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden)
Suhrkamp 2019

Es sind die jedem zugänglichen Beobachtungen, die ein Theoriewerk verständlich machen. Wer also als Einzelunternehmer in seinem Laden steht, weiß sofort, wovon hier die Rede ist. Denn er verrichtet die Arbeit, die auch seine Mitarbeiter tun, und zwar unter ganz ähnlichen Bedingungen. Und diese Verhältnisse waren, folgt man Elizabeth Anderson, bis nahe an die Ära Lincoln das Ideal des freien Marktes und seiner erwarteten Segnungen. Das Ideal blieb bestehen, die Realität des Marktgeschehens wurde aber ganz anders. Die industrielle Revolution veranlasste die Entstehung großer Unternehmen mit einer streng hierarchisierten Struktur. Eine Struktur der Herrschaft, die Ernst Kantorowicz einmal, als er über die mesopotamischen Großreiche schrieb, als „managerial und hydraulisch“ bezeichnete.

Das Buch von Elizabeth Anderson ist mit Kommentaren und Aufsätzen ausgestattet. Darin schreibt Ann Hughes: Andersons erstes Kapitel ist eine beispielhafte Vorführung, wie man historisches Material als eine Schatzkammer für die Vorstellungskraft einsetzen kann und als ein Vermächtnis für die Gegenwart behandelt.

Die Pointe bei Andersons Blick in die tiefe Vergangenheit des Marktes und seiner Theoretiker wie Adam Smith und Thomas Paine ist, dass das Marktdenken zu dieser Zeit wesentlich links war. Der Einzelunternehmer stand den vielen alten bevorrechtigten Institutionen gegenüber, vor allem den Gilden und dem Adel, und sollte gestärkt werden. Unter den heutigen Bedingungen aber erleben wir die Unternehmen als Staat im Staate.

Der historische Rückgriff ist notwendig, denn der öffentliche wirtschaftspolitische Diskurs ist nach Elizabeth Anderson intellektuell zu dürftig ausgestattet, um mit diesen Herausforderungen fertig zu werden.

Da die heutigen Unternehmen zutiefst kollektivistisch und nahezu absolutistisch organisiert sind, ist Elizabeth Anderson davon überzeugt, dass die Mehrzahl der Arbeitnehmer in den Vereinigten Staaten (…) im Arbeitsleben von kommunistischen Diktaturen regiert wird. Diese Regierungen verdanken sich keiner Wahl der Arbeitnehmer. Sie sind ihr an ihrem Arbeitsplatz vollständig ausgeliefert, heute mehr als jemals zuvor.