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Die vielen Ursachen und der eine Auslöser des Ersten Weltkriegs

Christopher Clark
Die Schlafwandler
Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog
DVA 2013

Mit Christopher Clarks umfangreicher Darstellung über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs hält man nach Emil Ludwigs Juli 14 von 1927 und Fritz Fischers Griff nach der Weltmacht von 1961 sicher eine wirkungsreiche Wortmeldung in Händen. Galt der militärischen Elite der Weimarer Republik der Krieg nur aus Gründen verloren, die man im nächsten zu vermeiden trachtete, war die Meinung einer ‚Kriegsschuldlüge‘ doch erheblich weiter verbreitet. Die Alleinschuld des Kaiserreichs am Ausbruch des Krieges, wie sie im Versailler Vertrag 1919 ratifiziert werden musste, wollte man nicht von den Siegermächten besetzt werden, wurde in Deutschland in fast allen politischen Lagern der Weimarer Republik abgelehnt.

Auch darum stieß das Buch von Emil Ludwig in Deutschland auf erheblichen Widerstand, konnte man darin doch nachlesen, wie sehr die deutsche Politik für den Ausbruch des Krieges verantwortlich war. Der Krieg wurde, so die gängige und verbreitete Meinung, Deutschland aufgezwungen. Diese ablehnende Haltung gegenüber einer Mitschuld Deutschlands hielt sich bis weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus. Ja, sie verstärkte sich sogar, gewann an Gewicht allein schon dadurch, dass der Zweite Weltkrieg unbezweifelbar von Deutschland ausging. Um so mehr hielt man sich hinsichtlich des Ersten frei von jeder Schuld.

Fritz Fischers Buch versuchte mit dieser Grundannahme aufzuräumen. Sein Schüler Immanuel Geiss, der übrigens weite Passagen des Buches geschrieben haben soll, gab einige Jahre später einige Bücher von Emil Ludwig in einer Neuauflage heraus. Fischers Buch versuchte nun den Nachweis, dass Deutschland – ganz wie im Zweiten Weltkrieg – auch schon im Ersten Weltkrieg einen Griff nach der Weltmacht versuchte. Der Aufschrei der zünftigen Historiker, die zum Teil noch im Kaiserreich ihre Karriere begonnen hatten, mündete in die sogenannte Fischer-Kontroverse.

Die Pointe dieses erbittert verteidigten Standpunkts über die Kriegschuldfrage Deutschlands liegt aber darin, dass man mit der Unschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg stillschweigend noch etwas anderes verteidigen konnte: Mit dem Versailler Vertrag ist untrennbar der Aufstieg des Nationalsozialismus verbunden, insofern dieser Vertrag nun zu Recht als ungerecht und wahrheitswidrig empfunden werden konnte, sind die Siegermächte von 1918, allen voran Frankreich, auch in der Verantwortung für einen Zweiten Weltkrieg.

Diese Kämpfe sind nun alle Vergangenheit. Und Christopher Clark kann mit den Schlafwandlern versuchen, ein ausgewogeneres Bild zu zeichnen. So ist unbezweifelbar, dass die Rede von der Einkreisung, die Beumelburg als Sperrfeuer um Deutschland in einem Buch festhielt, zu einer fixen Idee wurde, die sich im übrigen aus einer absolut verfehlten Bündnispolitik ergab. Sie war gerade darum verfehlt, weil sie auf die Anzeichen des Niedergangs des Britischen Empire, der machtpolitischen Unerheblichkeit Frankreichs und die Kränkung Russlands durch die Niederlage gegen Japan wenig bis gar nicht reagierte. Sie verband sich viel mehr dem Erhalt Österreich-Ungarns als Großmacht. So komplex die Ursachen sind, die zum Krieg führten, so einfach ist zu begreifen, dass damit der Krieg nur noch eines Auslösers bedurfte. Gerade das zu verhindern, dass Krieg aufgrund eines bloßen Mechanismus ausbricht, ist Aufgabe der Diplomatie – die in Deutschland versagte.

Ein wenig kehrt Clark zu Emil Ludwig zurück. Nur wartet er in seinem spannenden Buch mit einer Fülle von Material auf, ist aber bewundernswürdig in der Souveränität der Darstellung. Christopher Clark erzählt den Weg Europas in den Krieg als ein Folge von Ereignissen, die jederzeit anders hätten verlaufen können und doch in ihren Folgen absehbar waren.