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Karl Schlögel
Das sowjetische Jahrhundert
Archäologie einer untergegangenen Welt
C. H. Beck 2017
Unsere Vorstellungen von Russland wurden von Bildern und eigenen Anschauungen geprägt, die zumeist von der Zeit der späten sowjetischen Gesellschaft bestimmt sind. Das muntere Chaos der vorstalinistischen Ära, das das Autorengespann Ilf und Petrow beschreiben, will dazu nicht passen.
Es gibt also eine Vergangenheit, die auf eine Art und Weise verschwindet, dass sie kaum je wieder fassbar scheint. Das Sowjetsystem hat Vernichtung von Menschen und Gütern bedeutet – ein Strudel, der im Stalinismus bald die Revolutionäre und die Avantgarde selbst erfasste.
In dem Roman Eine Straße in Moskau von Michail Ossorgin verschwinden in Moskau 1919 Russlands Holzhäuser:
Der vorausschauende Meister des Holzschnitts Iwan Pawlow hielt die schwindende Schönheit der kleinen Holzhäuser schnell noch in Zeichnungen und Holzschnitten fest. Bereits in der auf den Tag der Zeichnung folgenden Nacht kamen Schatten in Walenki, furchtsam und frech, und schlugen, aufmerksam um sich sehend und horchend, die Bretter, beim Zaun beginnend, ab, brachten sie auf Schlitten fort und hofften dabei nur, der Miliz nicht zu begegnen. (…) Und gegen Morgen ragte an der Stelle, an der einmal ein altes Holzhäuschen gestanden hatte, ein Schornstein aus Ziegelstein mit der Schlafstelle auf dem Ofen aus dem mit Mörtel vermischten Schnee.
Eine Gesellschaft, in der einfach alles prekär wird – das Essen, die Wohnung und das Leben selbst – verschlingt sich selbst. Um diese untergegangene Welt in Teilen zu rekonstrieren, wendet sich Karl Schlögel genau diesen Teilen zu – Splitter des Imperiums ist der Titel des ersten Kapitels. Von diesen Splittern des Sowjetsystems auch der Frühzeit, der Zeit der NEP, der von Lenin initiierten und von Stalin wieder zurückgedrehten Neuen Ökonomischen Politik gibt es einiges, selbst aus der Zeit der Lager.
Das Lageruniversum, schreibt Schlögel, hat Eingang gefunden in die Heimat- und Stadtmuseen, manchmal minimalistisch-verschämt, manchmal offen und selbstbewusst. Das Dingsymbol des Lagers und der stalinistischen Industrialisierungsphase ist die Schubkarre.
Ob in Russland je die Einbeziehung der ganzen Geschichte der Sowjetzeit erfolgt, bleibt abzuwarten. Dass das Imperium der Aufarbeitung seiner ganzen Geschichte dringlich bedarf, ist Schlögels Antrieb zu diesem Buch, für das, nach Schlögels eigener Aussage im Vorwort, Putins Krim- und Ukraine-Politik den letzten Anstoß gab.
Schlögel schreibt Essays über Gemeinschaftshäuser, Warteschlangen, Toiletten, Feste, Orden, Küchen, Kleider, Landschaften und Klingelschilder. Seine kulturwissenschaftlichen Analysen dieser scheinbar randständigen Phänomene schließen die Vergesellschaftung der Sowjetzeit auf. In allen Erscheinungen, einfachen Gegenständen, wie spezifischen Raum- und Zeitordnungen drückt sich die sowjetische Gesellschaft als Ganze aus – und prägt sie bis heute.