// 2020

// Bücher

Bubikopf

 

Victor Margueritte
La Garçonne
Roman
Ebersbach und Simon 2020

Nach Lily Bart, Mrs. Bridge und Die Clique die nächste höchst zeitgemäße Wiederentdeckung zum reinen Lesevergnügen bei Ebersbach und Simon. Als das Buch zuerst 1922 erschien, war es mit einem Schlag „überall“ (Tucholsky).

Victor Margueritte, der mit seinem Bruder Paul eine Reihe von Romanen über den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 schrieb, war bei Erscheinen dieses Buches ein fest etablierter Autor und als Pazifist bekannt.

Seine Monique Lerbier, die Garçonne, bricht mit ihrer Familie, steht finanziell auf eigenen Beinen und stürzt sich in das Leben der Pariser Boheme – und, das ist die Pointe Marguerittes als Verfechter der Gleichberechtigung, kommt damit durch.

 

 

// Bücher

Der diskrete Charme der Diktatur

 

 

Wolfgang Hirn
Shenzhen
Die Weltwirtschaft von morgen
Campus 2020

Unzählige Politikerdelegationen tourten durch das Silicon Valley, um danach den Daheimgebliebenen mit leuchtenden Augen zu erzählen, was dort alles abgeht. Hirn wechselt nicht ohne Grund in eine sich jugendlich und freudig überrascht gebende Sprache des Managements. Gelegentlich hörte man auch in der Buchbranche Beurteilungen der Entwicklung, die der Begrifflichkeit eines Amüsierbetriebs entstammten: spannend.

Die Damen und Herren sollten mal die Richtung wechseln, schlägt Hirn vor. Er beschreibt die Millionenstadt Shenzhen, nicht weit von Hongkong, als Gründerstadt, als Digitalstadt, als Smart City, als elektromobile Stadt, als Wissenschaftsstadt und als Stadt einer zukünftigen Machtkonzentration.

Hirns Einstieg in sein lesenswertes Buch zeigt auch, dass dem Blickwechsel ein Stabwechsel vorausging. Es ist vor allem die Künstliche Intelligenz, gezüchtet in Kalifornien, die in China eine neues und erweitertes Verbreitungsgebiet findet. Bedenken ihr gegenüber, die vor allem in Europa geäußert werden, wirken nun vollends hilflos.

Pony Ma ist Gründer von Tencent. Er mag Teams. Darum hat er sie bei der Entwicklung des Instant-Messenger-Dienstes WeChat zwei Teams gegeneinander antreten lassen. Er lässt sie, schreibt Hirn, – das hat er sich von Microsoft abgeschaut – um die besten Ideen wetteifern. Was sich hier noch so systemklug als Übernahmeleistung ausnimmt, zeigt doch auch zugleich: die Unternehmen agieren längst wie Diktaturen.

Dabei scheinen sie noch nur der westlichen Idee des Wettbewerbs gegenüber charmant aufgeschlossen. Längst zeigt dieser aber agonale Züge, einfach, weil er an keiner Stelle moralische Schranken erkennen lässt.

// Bücher

Das Gesetz für flüssige Körper

 

 

Olga Forsch
Russisches Narrenschiff
Die Andere Bibliothek 2020

Er ist zu einer Welle im Meer anderer Wellen geworden. Branden diese gegen einen Felsen, zerschellen sie, nur um sich erneut zusammenzusetzen, meint Shukanez, alias Viktor Schlklowski. Er spricht über den Menschen und seine Bedürfnisse. Nüchtern repliziert Sochaty, alias Jewgeni Samjatin, darauf: Aber das ist ein Gesetz für flüssige Körper.

Die Replik zeigt, die Art der Übertragung wurde zwar verstanden, aber eben darum auch als unzulässige Übertragung abgewiesen. Dem pragmatischen Standpunkt der neuen russischen Gesellschaft, den Olga Forsch staatlichen Hyperbolismus nennt (siehe Lesung unten), kann literarisch nur noch mit assoziativer Phantastik begegnet werden. Olga Forsch wählt das Bild eines Narrenschiffs auf den Wellen einer sich neu formierenden Gesellschaft.

Das Vorbild dieses Narrenschiffs der Kunst ist das auf Maxim Gorkis Initiative zurückgehende Haus der Künste, das von 1919 bis 1922 bestand. Der Hafen, in den die Literatur ab 1934 auch offiziell, also staatlich verordnet einlaufen wird, ist der Sozialistische Realismus. Das Gesetz für flüssige Körper tritt in Kraft.

Zum Anhören: Olga Forsch, Russisches Narrenschiff. Übersetzt von Christiane Pöhlmann. Die Andere Bibliothek 2020. S. 138 – 141.