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Die besten deutschsprachigen Sachbücher des Jahres 2009

Wolfgang Martynkewicz
Salon Deutschland. Geist und Macht 1900 – 1945
Aufbau 2009

in der Kategorie erzählendes Sachbuch, Geschichte

Der Salon, schreibt Martynkewicz irgendwo, kenne kein Protokoll und keine Sitzordnung. So ist auch sein großartiges und unkonventionelles Buch ein Salon, der zeigt wie aus verstiegener Kunst, Philosophie und Literatur, gelangt sie zur Macht, Bestialität hervorgehen kann.

Martin Bojowald
Zurück vor den Urknall
Die ganze Geschichte des Universums
S. Fischer 2009

in der Kategorie erzählendes Sachbuch, Naturwissenschaft

Martin Bojowalds vereinfachte Beschreibung des Universums, die die als unvereinbar geltende Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie berücksichtigt, versteht man solange man sie liest. Das ist schon sehr viel und für ein populäres Sachbuch fast alles.

Sven Hillenkamp
Das Ende der Liebe.
Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit
Klett-Cotta 2009

in der Kategorie erzählendes Sachbuch, Zeitgeschichte

Hillenkamp durchkreuzt – Besseres lässt sich über ein Sachbuch nicht sagen – alle Erwartungen. Eine ausgezeichnete, weil hochdiszipliniert geschriebene Suada. Eine Kunst des Liebens für unser Medienzeitalter, das aus den Menschen bloße Medien ihrer Erlebnisse zu machen scheint.

Nachbemerkung: Hillenkamp erhält der Clemens Brentano Preis 2010 der Stadt Heidelberg.

Ines Geipel, Andreas Petersen
Black Box DDR.
Unerzählte Leben unterm SED-Regime
marixverlag 2009

in der Kategorie Reportage

Eine Sammlung einzelner Reportagen und Berichte über 33 vorsätzliche „Abweichler“, die auf ergreifende Art und Weise zeigen, was abweichendes Verhalten eigentlich ist.

Eric Chauvistré
Wir Gutkrieger.
Warum die Bundeswehr im Ausland scheitern wird
Campus 2009

in der Kategorie Thesenbuch

Das Buch zum Heer der Illusionen. Schnell und klar wie ein Rückzug.

Kerstin Decker
Mein Herz – Niemandem
Das Leben
der Else Lasker-Schüler
Propyläen 2009

in der Kategorie Biografie

Eine fabelhaft geschriebene Biografie. Hier zu einer Besprechung.

Peter Sloterdijk
Du mußt dein Leben ändern
Über Anthropotechnik
Suhrkamp 2009

in der Kategorie Ratgeber

Man lernt Gedanken lesen.

Jury: Michael Schikowski

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Zu den besten deutschsprachigen Sachbüchern des Jahres 2014, des Jahres 2013, des Jahres 2012, des Jahres 2011, des Jahres 2010, des Jahres 2008.

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Anderssein als Stil


Kerstin Decker
Mein Herz – Niemandem. Das Leben der Else Lasker-Schüler
Propyläen 2009

Kerstin Decker ist eine erfahrene Biografin. Was ihr aber mit diesem Buch gelungen ist, geht über das was man Biografie zu nennen gewohnt ist weit hinaus. Alle stilistischen Merkmale dieses Buches, die Zeitform, die kurzen Sätze, die insgesamt wie gesprochen wirkende Erzählung, alles dies ist bewusst gewählt. Zugleich reflektiert Kerstin Decker wie sie im Unterschied zur gängigen biografischen Form bei Else Lasker-Schüler von deren Formeln und Konventionen abweichen muss: „Wenn Kindheitskapitel in Büchern enden, dann wissen Leser und Autor: Hier ist etwas abgeschlossen, die Vorgeschichte eines Menschen. Von jetzt an übernimmt er sich selbst oder, weniger euphorisch gesagt, das Leben übernimmt ihn. Hier ist das anders.“ Das Anderssein der Lasker-Schüler so geschmeidig, so bewusst, so unterhaltsam und souverän in die Struktur und den Stil ihrer Biografie umzuwandeln, macht dieses Buch so bedeutend und den Lesern nichts weniger pure Freude.

Nachbemerkung: In der FAZ vom 4.3.10 schreibt Beate Tröger in ihrer Rezension über Kerstin Deckers Buch: „Anstelle einer sachlichen Lebensbeschreibung (…) versucht sich Kerstin Decker an einer identifikatorischen, undistanzierten Romanbiographie, die einer verwässerten philosophischen Terminologie Vorrang gegenüber der literaturwissenschaftlichen gibt.“ Kerstin Decker wusste wohl nicht, dass der sachlich-literaturwissenschaftliche Zugang zwingend vorgeschrieben ist.

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Das implizite Sachbuch

Ursula Büttner
Weimar. Die überforderte Republik
Klett-Cotta 2008

Lothar Machtan
Die Abdankung
Propyläen 2008

Die sprachlose soziale Lebenswelt veranlasst und akzeptiert die Verbalisierungen der Ideologie, aber nicht umgekehrt: Eine Ideologie überzeugt nur Überzeugte. So Paul Veyne in seinem Buch, das ich an einer anderen Stelle schon zu würdigen versuchte. Ein Satz, der im Kontext der Christianisierung geschrieben wurde, im Kontext der Moderne allerdings von grundstürzender für viele unserer Überzeugungen ist. Denn wir glauben ja, dass Ideologie und Fanatismus selbst eine Gefahr sei. Sie ist mit Veyne gesehen viel größer, insofern sie in der Lebenswelt selbst schon bereit liegt. Es sind aber nicht allein die Ideologen, sondern auch die Beobachter der Gesellschaft, die in der zeitgenössischen Publizistik ihre Beobachtungen mitteilen. Allerdings gehören diese zu Verbalisierungen, denen nur ein Ausschnitt der sozialen Lebenswelt zustimmen mag.

Ursula Büttner hat ein höchst materialreiches und sehr gut lesbares Buch geschrieben, aus dem man unendlich viel lernen kann. Darf man aber von Büchern Sachen fordern, die diese einfach nicht hergeben? Ich frage mich zum Beispiel, ob es nicht auch Bestandteil einer Geschichte der Weimarer Republik sei, was diese selbst an politischen Analysen und gesellschaftlichen Beschreibungen hervorgebracht hat? Die fehlen in diesem umfangreichen Buch von Büttner. Natürlich nicht ganz. Aber doch fast ganz. Was ich damit meine?

Die Tragik der Weimarer Republik

Man stelle vor, man wollte Ihnen aus dem Leben eines Schriftstellers erzählen, dessen Tagebücher, Briefe und Werke aber an keiner Stelle hinzugezogen würden, ein Menschenleben also als komplett bewusstloses. So ist das hier ein wenig. Die Weimarer Republik als eine sich ihrer selbst vollkommen unbewußte Gesellschaft. Ist dagegen nicht gerade der öffentlich ausgetragene Streit über die Gesellschaft nicht geradezu ein Kennzeichen der Weimarer Zeit? Sind die Kräfte, die die Weimarer Republik überforderten nicht auch Kräfte gewesen, die sie interpretierten? Und besteht die Tragik des Untergangs der Weimarer Republik nicht darin, dass man ihn sehenden Auges auf sich zukommen sah? Als bedeutende politische Reihe erscheint zum Beispiel im Verlag Diederichs die Politische Bibliothek.

Warum aber schließen die Historiker dieses Auge, mit dem sich eine Gesellschaft selbst beobachtet? Sieht es unscharf? Ist es farbenblind? Oder würde der Bezug auf die Selbstdeutung der Weimarer Republik den Historiker auf bloßes Nachsprechen reduzieren? Ist dieses Auge ein blinder Fleck der Historiker? Oder wurde damals tatsächlich nur dummes Zeug geschrieben? Sind diese Selbstdeutungen alle nur Primärtexte und als solche in und mit ihrer Zeit unentwirrbar verwoben und daher unbrauchbar? Sind diese Texte in einer Vorstufe der wissenschaftlichen Aufarbeitung und Verarbeitung gleichsam schon im Buch, aber nur implizit?

Ist die Weimarer Republik ein Gegenstand, der gar nicht von 1918 – 1933 dauerte, sondern erst 2008 in einem Buch von Ursula Büttner entdeckt wird?

Nichts Neues über die Neue Sachlichkeit

Über die die Weimarer Zeit besonders charakterisierende „Neue Sachlichkeit“ schreibt Büttner im Untertitel des knapp vier Seiten umfassenden Artikels: „kritische Zeitbetrachtung und reaktionäre Gegenwehr“. Dann kommen Namen und Titel zur Sprache, die wir überall sonst auch lesen können. Würde man alles was man über diese Zeit weiß nur aus diesem einen Buch beziehen, müsste man glauben, dass die Menschen dieser Zeit auf eine gespenstische Art und Weise taub und blind für sich selbst, ihre Mitmenschen und die Gesellschaft waren, in der sie lebten. Wir wissen irgendwie, dass es so nicht war und doch ist dieses Buch nicht geeignet, uns vom Gegenteil zu überzeugen.

Einer der Effekte ist der: Wenn man Bücher aus dieser Zeit zur Hand nimmt, ist man wirklich und wahrhaftig verblüfft, wie weit diese Zeit sich selbst auf den Begriff zu bringen wußte. Dass sie also gerade nicht eine sprachlose soziale Lebenswelt sei, die erst der Arbeit der Historiker bedarf, die sie ausspricht.

Humor als Darstellungsform

Um näher zu erläutern, was ich meine, nehme ich mal ein Gegenbeispiel, das ich bei Lothar Machtan finde. Gegenüber Ursula Büttner kann hier weder von Materialreichtum noch von Lesbarkeit die Rede sein. Mit mehr Freude an der Skurrilität des Themas hätte das ein schönes Kabinettstückchen werden können. Aber Machtan erklärt lieber, „warum alles so kam“, statt auch den in der Geschichte verborgenen Humor zu nutzen. Dass er diesen nicht deutlich genug sieht, zeigt und nutzt, sollte vielleicht einmal als schwerer Darstellungsfehler innerhalb der Historiker sanktioniert werden.

An einem Punkt aber macht er es dann doch anders als die Zunft. Er schreibt: „Je mehr die Fürsten mediale Interessen berücksichtigten, desto größer wurde die Gefahr, ihre Reputation an ebendiese Medien zu binden – und sie gegebenenfalls auch zu verlieren. Ihr Problem war, dass sie diese Dynamik der massenmedialen Nebenwirkungen in den unterschiedlichen Öffentlichkeiten nicht einmal im Ansatz reflektierten.“ Diese Reflektion blieb nach Quellenlage bei Machtan also aus. Und es ist nicht der Historiker, der diese Reflexion anstellt. So ist folgendes im Vorwärts von 1914 zu lesen und Machtan enthält uns das glücklicherweise nicht vor:

„In der dummen Sucht, dem beglückten Bürgerauge auch nur ja jede Position der Herrscher aufzudecken, vergaß der Mann an der Kurbel oft genug, dass auch in den höchsten Sphären Schönheitsfehler zu Hause sind, und dass zwar der Filmfabrikant, aber nicht sein Apparat an loyaler Gesinnung zu leiden hat.“ Folglich „durchbraust stürmische Heiterkeit das Haus, wenn ein alter Knacker Treppen herunterwackelt, und wenn seine irdische Erscheinung so in recht possierlichem Gegensatz zu seiner himmlischen und göttlichen Mission hienieden steht. Sind sie nicht zum Nachdenklichwerden, diese Könige im Kino?“

Die theoretische Grundlage für das, was Machtan in seinem Buch schildert, haben wir im Grunde schon von Paul Veyne gehört. Im November 1918 kam es zu einer fast widerstands- und geräuschlosen Abdankung der gekrönten Häupter. Die Lebenswelt forderte Neues. Eine Ideologie überzeugt nur Überzeugte und eine Abdankung kann so etwas werden, wie die Schließung einer Gaststätte aus Altergründen.