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Legende und Erzählung

Daniel Siemens
Horst Wessel
Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten
Siedler 2009

Das Motto, das der Autor seinem Buch voranstellt, reflektiert zumeist auf den Gegenstand des Buches. Nicht so bei Daniel Siemens. Er zitiert Paul Veyne: „Die historische Erklärung ist nur die Klarheit, die eine ausreichend dokumentierte Erzählung aufweist.“ Ein Satz, der fast den vollständigen Werkzeugkasten des Historikers enthält: Die historischen Sachverhalte werden klar nur in der Form der Erzählung. Diese aber muss dokumentiert sein. Umgekehrt: was sich nicht erzählen lässt, bleibt im Grunde unklar.

Dahinter steckt für den Historiker eine Tücke und Gefahr, der er meint zu entgehen, wenn er sich der Erzählung verweigert. Nur so glaubt er, dass man seinen Text von den Legenden zum Beispiel über Horst Wessel unterscheiden könne. Davor aber muss er, meint vielleicht Daniel Siemens, keine Angst haben. Den Erzählungen der Nationalsozialisten von Tod und Verklärung des Horst Wessel, den Goebbels als „Christussozialisten“ bezeichnete, stellt er seine Erzählung entgegen, die Erzählung, die Paul Veyne fordert, die „ausreichend dokumentierte Erzählung“.

Die Erzählungen, die Siemens aufspürt, gliedert er in drei Teile. Die Lebensgeschichte Horst Wessels (1907 – 1930), der Geschichte seiner Verklärung in der nationalsozialistischen Propaganda bis 1945 und der lange Weg der Bundesrepublik zur späten Gerechtigkeit. Es kostet viel Zeit und Arbeit, wenn eine Biographie von einer Hagiographie fast vollständig überformt ist. An einer Fülle von Details, die Siemens recherchiert hat, wird aus der Legende eine historische Erzählung. Siemens gelingt mit seinem Buch nicht allein eine Tiefenbohrung in Zeiten und Milieus, die zu den schäbigen Anfängen des Nationalsozialismus zählen, sondern auch eine beeindruckende Geschichte der Mechanismen einer skrupellosen politischen Propaganda.

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Vom Sinn der Sinne

Antonio Forcellino
Raffael
Siedler 2008

Dass die Kunst eine sinnliche Angelegenheit war, in der Wissen und Handwerk eine sublime Verschmelzung eingehen, erfährt man in dieser Biografie des Raffael Santi, genannt Raffael, von Antonio Forcellino. Es mag ja daran liegen, dass hier ein Restaurator schreibt, dass die Sinnlichkeit der Materialen in diesem außerdem an Schwülstigkeit nicht ganz armen Buch so eine große Rolle spielt:
Im Frühjahr, wenn das duftende Harz der Bäume erwärmt und geschmolzen wurde, um damit die Gemälde zu lackieren, war die Werkstatt weitaus einladender. Die Luft füllte sich dann mit dem charakteristischen Aroma jener Bäume, die weit entfernt von den dunklen Wäldern Urbinos wuchsen, und trug die Erinnerung an exotische Landschaften herein, die die Meister auf ihren Bildern festzuhalten suchten. Noch feierlicher war die Atmosphäre freilich im Sommer, wenn sich das Licht der langen Tage im bräunlich glänzenden Gold der Tafelbilder spiegelte und man die trockene Zeit ausnutzte, die es dem Meister erlaubte, Bolus und Beizmittel so zu handhaben, dass die dünnen Goldblättchen aufgenommen wurden. Doch welchen Sinn hätten unsere Sinne, wenn nicht den, den Forcellino ihnen gibt?

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Sex tells

Nachdem die Bettfedern um das Matratzenoutlet der Charlotte Roche ein wenig verflogen sind, kann man vielleicht mal zu den Büchern kommen, die nicht zur Gattung Fiktion-als-Sachbuch gehören. So dient die mit verschmitzten Lächeln vorgetragene Behauptung der Autorin, dass in Feuchtgebiete Selbsterlebtes zu lesen wäre, der Irreführung der bestellten Literaturkritiker, die prompt, bis auf einzelne Ausnahmen, darauf hereinfallen. Vom Augenblinzeln dieser Lara Croft der Talkshows kirre gemacht, vergessen sie oder übersehen vorsätzlich, den Text auf seine literarische Qualität zu untersuchen. Ein Pseudoroman, der als Pseudosachbuch gelesen wird. Im Oszilieren der Gattungen beginnen die Augen zu flimmern und die Lippen zu beben. Nicht zu vergessen, der absolut lächerliche Gestus der Kritik an all diesem stümperhaften Herumfummeln an den Geschlechtsteilen, wo doch in Wahrheit Aufklärung und Kritik unter einem Berg von wahllos zusammengeworfenen Hygienemitteln begraben wurde. Man kann festhalten, dass die Republik hier einer ebenso begabten wie konsequenten Autorendarstellerin auf den Schleim gegangen ist. Und doch müsste das Buch mit Volkmar Siguschs Neosexualitäten gut zu erklären sein, wenn es nicht ohnehin vom schlaksigen Ghostwriter als Anwendungsbeispiel eben dieses Buches konzipiert wurde.

Der Sexualität ist insgesamt ein wichtiger Trend der Sachliteratur gewidmet. Dabei werden lebenspraktische Fragen vom Urgestein der Sexberatung, Dr. Ruth Westheimer, geklärt. Man muss dazu wissen, dass sich Dr. Ruth dergleichen schlüpfrige Anmoderation von Büchern über Sexualität verbeten hätte. Zu Recht. Hier der Link, der ziemlich genau klärt, welche gewaltigen Unterschiede zwischen einem guten Rat und herumraten liegen.

Die weiteren Titel werden den eher praktisch orientierten Zeitgenossen nicht so sehr interessieren. Es sind historische Sachbücher. Dabei stand bei Dagmar Herzog zuerst, in diesem Jahr dann bei Anna Maria Sigmund die Neubewertung der Sexualität im Dritten Reich im Mittelpunkt. Die alte mehr oder weniger an der Hydraulik orientierte Vorstellung der Sechziger von sexueller Verdrängung und politischer Diktatur wird in diesen Büchern endgültig demontiert.

Sehr unterschiedliche Geschwister sind dagegen die Bücher von Volkmar Sigusch zur Geschichte der Sexualwissenschaft und Robert Muchembled. Während Sigusch nach meinem Geschmack von der Kritik leider in seiner Begabung zum literarischen Erzählen zu wenig gewürdigt wurde, ist Muchembled von dieser wegen allzu geringer Neuigkeitswerte seines Buches sehr gezaust worden. Das Buch liest sich doch anständig und unterhaltsam.

Volkmar Sigusch
Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion
Campus 2005

Dr. Ruth Westheimer
Silver Sex. Wie Sie Ihre Liebe lustvoll genießen
Campus 2008

Anna Maria Sigmund
„Das Geschlechtsleben bestimmen wir“. Sexualität im Dritten Reich
Heyne 2008

Dagman Herzog
Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts
Siedler 2005

Volkmar Sigusch
Geschichte der Sexualwissenschaft
Campus 2008

Robert Muchembled
Die Verwandlung der Lust
Eine Geschichte der abendländischen Sexualität
DVA 2008