// 2008

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Ein fiktionales Sachbuch

Rohan Kriwaczek
Eine unvollständige Geschichte der Begräbnisvioline
Eichborn 2008

Die ältesten Zeugnisse der Kultur stammen in der Regel aus Grabstätten. So sind Bestattungsriten vielleicht die ältesten und ersten Zeugnisse des Übergangs des Menschen von der Natur zur Kultur. Kurz darauf fand sich auch der erste Experte gewerblicher Eingrabungsarbeiten ein, der Bestatter, dem dann nur wenige tausend Jahre später der Experte für die Umkehrung folgte, der Archäologe. Zur Beerdigung gehörte schon früh semiprofessionelles Musizieren am Sarg, im Altertum die Flöte, im Mittelalter der Gesang und bald nach ihrer Einführung im Barock die Violine.

In Rohan Kriwaczeks Buch Eine unvollständige Geschichte der Begräbnisvioline wird nun die Kulturgeschichte der Begräbnisviolinenmusik, der Begräbnisviolinenkompositionen und der Begräbnisviolinenmusiker erzählt. Ein Buch, das in ebenso ernsthafter wie komplett erfundener Weise ein vernachlässigtes Kapitel unserer Kulturgeschichte präsentiert. Da es für alles bereits Experten gibt – selbst für Ein- und Ausbuddeln – hat sich Kriwaczek sein Gebiet, auf dem er sich als unbestrittener Experte präsentieren kann, kurzerhand selbst erfunden. Damit haben wir hier das seltene Beispiel eines fiktionalen Sachbuchs. Um die Faktizität des Fiktionalen komplett zu machen, präsentiert der Autor dessen Anblick allein schon einen den Schreck in die Glieder fahren lässt, im Internet Hörproben, die den am Sarg Trauernden dem Toten bald nachfolgen lassen. Hier der Link zum Spuk.

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Näher kommen

Mariusz Szczygiel
Gottland,
Suhrkamp 2008

Von Hanna Krall und Ryszard Kapuscinski habe er alles gelernt, sagt der polnische Reporter Mariusz Szczygiel einmal. Seit 1989 schreibt er für die polnische „Gazeta Wyborcza“ große, preisgekrönte Reportagen. Szczygiel sagt über die Reportage: „Eine gute Reportage muss überraschen und darf nicht vorhersehbar sein. Sie muss viele Details aufweisen, die es dem Leser einerseits erlauben, dem Hauptprotagonisten sehr nah zu kommen“. Ein Satz, den man hierzulande fast als unseriös zurückweisen würde, denn fälschlicherweise identifiziert man dergleichen mit szenischem Erzählen, Kino irgendwie und dann gleich mit leichter Kost aus Amerika. Ein verbreiteter Dreisprung daneben, vor allem unter denjenigen, die die Sachen hochhalten und reinhalten wollen und dabei jedes Nähertreten und Näherkommen verhindern. Dann sagt Szczygiel noch: „Ein weiteres Merkmal einer guten Reportage ist, dass sie manchmal auch schmerzlich nachwirkt, wie ein guter Film oder Roman.“ So und nicht anders ist es bei all seinen Reportagen oder Erzählungen über das Leben im vorkommunistischen, kommunistischen und nachkommunistischen Tschechien. Reportagen über Lida Baarová, Goebbels Geliebter, dem Erbauer eines monströsen Stalin-Denkmals oder Karel Gott, dessen Museum „Gottland“ sich eine weitere Reportage widmet. Oder die Geschichte des Schusters Tomás Bata. Was für eine Schule des Erzählens durch bloßes Näherkommen oder schlichtes Einlassen.

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Vom Sinn der Sinne

Antonio Forcellino
Raffael
Siedler 2008

Dass die Kunst eine sinnliche Angelegenheit war, in der Wissen und Handwerk eine sublime Verschmelzung eingehen, erfährt man in dieser Biografie des Raffael Santi, genannt Raffael, von Antonio Forcellino. Es mag ja daran liegen, dass hier ein Restaurator schreibt, dass die Sinnlichkeit der Materialen in diesem außerdem an Schwülstigkeit nicht ganz armen Buch so eine große Rolle spielt:
Im Frühjahr, wenn das duftende Harz der Bäume erwärmt und geschmolzen wurde, um damit die Gemälde zu lackieren, war die Werkstatt weitaus einladender. Die Luft füllte sich dann mit dem charakteristischen Aroma jener Bäume, die weit entfernt von den dunklen Wäldern Urbinos wuchsen, und trug die Erinnerung an exotische Landschaften herein, die die Meister auf ihren Bildern festzuhalten suchten. Noch feierlicher war die Atmosphäre freilich im Sommer, wenn sich das Licht der langen Tage im bräunlich glänzenden Gold der Tafelbilder spiegelte und man die trockene Zeit ausnutzte, die es dem Meister erlaubte, Bolus und Beizmittel so zu handhaben, dass die dünnen Goldblättchen aufgenommen wurden. Doch welchen Sinn hätten unsere Sinne, wenn nicht den, den Forcellino ihnen gibt?