// 2008

// Bücher

Wir Musterknaben


Mark Buchanan, Warum die Reichen immer reicher werden und Ihr Nachbar so aussieht wie Sie, Campus 2008

Haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt, wie Sie hierher, in diesem Augenblick auf diese Internetseite geraten sind? Sie werden sagen, dass Sie durch irgendetwas, einen Link, eine Information, einen Tipp oder nur rein zufällig hierher geraten sind. Lassen Sie sich dagegen von Mark Buchanan sagen, dass Sie einem Muster gefolgt sind. In seinem Buch über Sozialphysik zeigt er anhand einer Fülle von Beispielen aus Wirtschaft, Naturwissenschaft und Soziologie, wie wir vermeintlich individuelle Handlungen innerhalb bestimmter Muster vollziehen. So sind wir alle auch ein wenig Musterknaben.

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Jemand Eis?

Gregor Schöllgen
Der Eiskönig.
C.H. Beck 2008

Jonathan Carr
Der Wagner-Clan
Hoffmann und Campe 2008

Man stelle sich vor, jemand der alle Anlagen zum Sachbuchautor hat, orientiert sich an Vorbildern wie einer Betriebsleitung für eine Bohnenkaffeemaschine oder, was fast dasselbe ist, an einem von einem deutschen Professor verfassten Sachbuch? Aber, liebe Autoren, sind Kaffeemaschinenhersteller und deutsche Professoren nicht die Leute, vor denen euch eure Eltern immer gewarnt haben?
Um weiteren Schaden von jungen deutschen Schriftstellern abzuwenden, muss man sagen: Verfasser von Gebrauchsanweisungen und deutsche Professoren langweilen zu Tode, weil sie die Gattungsbezeichnung „Sachbuch“ einfach falsch, nämlich wörtlich verstehen und unter Verhinderung aller, auch nur der einfachsten literarischen Mittel, einen Text produzieren, von dem sie nachher behaupten, dass das ein Sachbuch sei.

Denn wenn ich ein Buch über die Geschichte des zweitwichtigsten Eisherstellers lesen soll, für den sich doch ernsthaft niemand interessiert, dann doch nicht ohne dass ich auch erfahre, was Eis ist. Bei Schöllgen nimmt man Eis über das Gehirn auf! Man lese, aber nur ganz kurz, Gregor Schöllgen, und dann dagegen Jonathan Carr, der leider kurz nach Erscheinen seines wunderbaren Buches verstarb. Beide Bücher über Familiäres. Aber wie anders! Und das liegt keineswegs daran, dass Carr irgendetwas Neues mitzuteilen hätte. Ganz und gar nicht. Aber Carr ruft in seinem Buch gleichsam ständig: „Jemand Eis?“ und serviert dann Süßes und Saures, Kaltes und Heißes und ganz viel erste Sahne. Es ist in der Tat so, dass wenn man deutsche Sachbuchautoren mit denen britischer Herkunft vergleicht, man sich vorkommt, als vergleiche man Wagner mit Speiseeis. Beides hat leider allzu oft gar nichts miteinander zu tun.

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Sex tells

Nachdem die Bettfedern um das Matratzenoutlet der Charlotte Roche ein wenig verflogen sind, kann man vielleicht mal zu den Büchern kommen, die nicht zur Gattung Fiktion-als-Sachbuch gehören. So dient die mit verschmitzten Lächeln vorgetragene Behauptung der Autorin, dass in Feuchtgebiete Selbsterlebtes zu lesen wäre, der Irreführung der bestellten Literaturkritiker, die prompt, bis auf einzelne Ausnahmen, darauf hereinfallen. Vom Augenblinzeln dieser Lara Croft der Talkshows kirre gemacht, vergessen sie oder übersehen vorsätzlich, den Text auf seine literarische Qualität zu untersuchen. Ein Pseudoroman, der als Pseudosachbuch gelesen wird. Im Oszilieren der Gattungen beginnen die Augen zu flimmern und die Lippen zu beben. Nicht zu vergessen, der absolut lächerliche Gestus der Kritik an all diesem stümperhaften Herumfummeln an den Geschlechtsteilen, wo doch in Wahrheit Aufklärung und Kritik unter einem Berg von wahllos zusammengeworfenen Hygienemitteln begraben wurde. Man kann festhalten, dass die Republik hier einer ebenso begabten wie konsequenten Autorendarstellerin auf den Schleim gegangen ist. Und doch müsste das Buch mit Volkmar Siguschs Neosexualitäten gut zu erklären sein, wenn es nicht ohnehin vom schlaksigen Ghostwriter als Anwendungsbeispiel eben dieses Buches konzipiert wurde.

Der Sexualität ist insgesamt ein wichtiger Trend der Sachliteratur gewidmet. Dabei werden lebenspraktische Fragen vom Urgestein der Sexberatung, Dr. Ruth Westheimer, geklärt. Man muss dazu wissen, dass sich Dr. Ruth dergleichen schlüpfrige Anmoderation von Büchern über Sexualität verbeten hätte. Zu Recht. Hier der Link, der ziemlich genau klärt, welche gewaltigen Unterschiede zwischen einem guten Rat und herumraten liegen.

Die weiteren Titel werden den eher praktisch orientierten Zeitgenossen nicht so sehr interessieren. Es sind historische Sachbücher. Dabei stand bei Dagmar Herzog zuerst, in diesem Jahr dann bei Anna Maria Sigmund die Neubewertung der Sexualität im Dritten Reich im Mittelpunkt. Die alte mehr oder weniger an der Hydraulik orientierte Vorstellung der Sechziger von sexueller Verdrängung und politischer Diktatur wird in diesen Büchern endgültig demontiert.

Sehr unterschiedliche Geschwister sind dagegen die Bücher von Volkmar Sigusch zur Geschichte der Sexualwissenschaft und Robert Muchembled. Während Sigusch nach meinem Geschmack von der Kritik leider in seiner Begabung zum literarischen Erzählen zu wenig gewürdigt wurde, ist Muchembled von dieser wegen allzu geringer Neuigkeitswerte seines Buches sehr gezaust worden. Das Buch liest sich doch anständig und unterhaltsam.

Volkmar Sigusch
Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion
Campus 2005

Dr. Ruth Westheimer
Silver Sex. Wie Sie Ihre Liebe lustvoll genießen
Campus 2008

Anna Maria Sigmund
„Das Geschlechtsleben bestimmen wir“. Sexualität im Dritten Reich
Heyne 2008

Dagman Herzog
Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts
Siedler 2005

Volkmar Sigusch
Geschichte der Sexualwissenschaft
Campus 2008

Robert Muchembled
Die Verwandlung der Lust
Eine Geschichte der abendländischen Sexualität
DVA 2008