// 2015

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Links reden, rechts abbiegen

Armin Nassehi
Die letzte Stunde der Wahrheit
Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss
Murmann 2015

Wer nicht von seinen Gegnern lernt, der lernt eigentlich gar nichts. Da aber augenblicklich Zeiten der richtigen Seite – nicht etwa der linken, sondern der moralischen – sind, Zeiten, in denen es ausreicht, das Gute bloß zu wollen, zu behaupten und zu fordern, ist jeder Versuch irgendetwas zu durchdenken gefährlich.

Armin Nassehi scheut dieses gefährliche Fahrwasser nicht. In seinem wunderbar anregenden und um Missverständnisse unbesorgten Buch geht er der Auseinandersetzung mit dem rechten Denken nicht durch Herabsetzung aus dem Weg, sondern begegnet ihm mit Durchdenken.

Das setzt voraus, dass wir Komplexität nicht weiter reduzieren. Komplexität zu reduzieren, heißt an ihr zu scheitern. Es gibt zwei Arten: die sehr verbreitete Art des Scheiterns an Komplexität ist Moral. Die andere Art des Scheiterns ist Sichtbarkeit. In beiden Fällen erscheint Komplexität gar nicht mehr. Was erscheint, ist eine Gruppe von Menschen. Die Vereinfacher aus Moral wollen der Gruppe helfen, die Vereinfacher aus Dummheit lehnen die Gruppe ab.

„Es ist eine unmittelbare Reaktion auf die Komplexität einer Welt, die allenfalls abstrakt auf den Begriff gebracht werden kann, aber konkret gelebt werden muss – dies ist die Spannung, in der wir eben links reden und rechts leben.“

So ist es auch mit diesem Buch, das hier allenfalls auf den Begriff einer dringenden Leseempfehlung gebracht werden kann, konkret aber immer aufs Neue mit Gewinn gelesen werden kann.

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material turn

Philipp Felsch
Der lange Sommer der Theorie
Geschichte einer Revolte 1960 – 1990
C. H. Beck 2015

In den letzten Jahren erschienen mit Ulrich Raulffs Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Helmut Lethens Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht und schließlich auch Hans Magnus Enzensbergers Tumult ein Schub an Memoirenliteratur. In all diesen Erinnerungswerken haben Lektüren eine überragende Bedeutung.

Mit Philipp Felschs Buch Der lange Sommer der Theorie, das auf Enzensbergers Roman über Buenaventura Durruti, Der kurze Sommer der Anarchie, anspielt, liegt nun auch ein Buch vor, das die Zeit von 1960 bis 1990 aus dem Inneren der Buchproduktion erzählt. Ist diese Anspielung auf Enzensberger Roman schon fragwürdig, gerät der intellektuelle und politische Historie versprechende Untertitel entschieden zu breit. Denn zumindest durch den Untertitel hätte gesagt werden müssen, um was es sich bei diesem Buch eigentlich handelt: die wunderbare Erzählung des Merve-Verlags aus den Archiven der Theorie.

Der Merve-Verlag, als Kollektiv gegründet, dessen erste offizielle Publikation 1970 erschien, erhielt seinen Namen durch die Ehefrau Peter Gentes, Merve Lowien. Durch Heidi Paris, die Peter Gente 1974 kennenlernte, zerfallen Kollektiv und Ehe. Dieses Buch ist also nichts weniger als die Geschichte des Merve-Verlags, der sich, das nur nebenbei, auch als Gegenstück zur Suhrkampkultur begriff, deren farbliche Reminiszenz auf dem Umschlag also unglücklich ist.

„Dieses Buch“, schreibt Philipp Felsch in der Einleitung, „erzählt von Peter Gentes Bildungserlebnissen, von den Irrfahrten des Merve-Kollektivs und von den Entdeckungen des Verlegerpaares. Es folgt der Spur ihrer Lektüren, ihrer Dedatten und Lieblingsbücher – aber es dringt nicht ins Innere der Bleiwüsten ein.“

Am legendären Verlegerpaar Heidi Paris und Peter Gente wird deutlich, wie sehr das Büchermachen aus Bücherlesen hervorgehen kann. Das wird auch durch die von Felsch als Mitbringseln aus dem Archiv an den Anfang der Kapitel gestellten Faksimiles deutlich. Angerissen und mit handschriftlichen Notizen von Gente versehen, zeigen sie die Bücher des Verlegers, eigene und fremde, als interaktives Medium, das zur Modifizierung und Kommentierung einlädt, und aus dem neue, weitere Bücher hervorgehen.

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Die Stadt der Esel


Le Corbusier
Städtebau.
DVA 2015

Im Jahr 1925 erschien Le Corbusiers Urbanisme, das 1929 in deutscher Übersetzung von Hans Hildebrandt bei der Deutschen Verlagsanstalt veröffentlicht wurde. Nun ist es in einer Faksimile-Wiedergabe nochmals aufgelegt worden.

Le Corbusier (1887 – 1965) wird mit diesem Buch ein enormer oder, wie es in der Sprache der Architekten heißen müsste, „bahnbrechender“ Einfluss auf moderne Stadtplaner unterstellt. Dieser wird zu einem guten Teil auch darauf zurückzuführen sein, dass Le Corbusier seine Überlegungen in einem zupackenden und expressionisten Stil vorlegt. Seine Argumentation ist allerdings an vielen Stellen abenteuerlich.

Der krumme Weg wird von ihm als der Weg des Esels charakterisiert, der sich immer den einfachsten Pfad durch unwegsames Gelände suche. Eine ebenso einflussreiche wie unsinnige Polemik, sucht sich doch auch der Wanderer, der bei Verstand ist, nicht den geraden Weg über Stock und Stein. Genau dies aber behauptet Le Corbusier.

Im Bildmaterial nicht anders. Ein Nomadenlager wird gezeigt. Darunter eine mittelalterliche Stadt mit dem Text: „Der Nomade hat Wurzeln gefaßt (es entstand dieser Flecken, ein Gipfel des Entzückens für diese Städtebauer!)“ Darunter das Bild einer modernen Stadt mit Hochhäusern. Der Text dazu: „Wir sind keine Nomaden mehr und müssen Städte bauen“.

Im pathetisch „Bestätigungen, Anregungen, Mahnungen“ überschriebenen letzten Kapitel dann noch eine an Fritz Kahn (zur Besprechung des Buches über Fritz Kahn hier) erinnernde biomorphe Analogie: der Transport der Nährstoffe vom Dünndarm zum Herzen gleiche dem städtischen Transport vom motorischen Zentrum über Umschlagbahnhöfe zum Verbrauch.

Der 50. Todestag Le Corbusier ist Anlass, dieses Buch wieder lieferbar zu machen. Le Corbusier, der die bürgerliche Stadt, die durch Bevölkerungsexplosion und Verkehrsdichte zu ersticken drohte, durch die funktionale Stadt zu ersetzen trachtete, muss gelesen werde. Wer liest, stimmt nicht zu, sondern ab. Wolfgang Pehnt schreibt im Vorwort zu dieser Neuausgabe: „Wir können uns angesichts der offen gelegten Alternativen miteinander verständigen, was wir wollen. Und was wir nicht wollen.“

Inzwischen hat sich die Stadt an vielen Stellen zur postmodernen Stadt gewandelt. Und sie verändert sich gerade weiter zur digital vernetzten Stadt, die sich ihre eigene, von der Wirklichkeit der Stadt unabhängige, Wirklichkeit schafft. Einer Geisterstadt, in der nicht ist, was nicht digital abgebildet ist. Einer Stadt, in der Bewegung und Denken ein ebenso seltenes wie luxuriöses Selbstgefühl bedeuten, das nur ist, wenn es nicht digital ist. Eine neue Stadt der Esel.