// 2018

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Das Rädchen

Edith Wharton
Die verborgene Leidenschaft der Lily Bart
Roman
Ebersbach und Simon 2018

Als Lily neunzehn Jahre alt war, zwangen sie die Umstände sehr plötzlich, ihre Weltsicht grundsätzlich zu revidieren. Die hier mitten im Roman genannten Umstände sind der Ruin ihres Vaters, der Lily Bart zwingt, einen anderen Blick auf die Welt zu werfen.

In kaum einem Text über Edith Wharton fehlen der Hinweis auf die Freundschaft und literarische Verwandtschaft mit Henry James und die leicht bekümmerte Feststellung, dass sich Wharton wie James in Deutschland nie so richtig durchsetzen konnten. Während die Freundschaft auf die Verwandtschaft der Werke zurückzuführen ist, die sich vor allem mit der Elite, der feinen Gesellschaft befassen, ist die Geschichte der Rezeption in Deutschland ein Rätsel.

Dieses Rätsel ist vielleicht gar nicht so groß. Denn es ist auch dadurch erklärbar, dass man in Deutschland, vor allem in der frühen Bundesrepublik, Eliten überaus skeptisch oder gar nicht sah. Die Eliten waren genau das nicht, was sie im Amerika Veblens und im Frankreich Bourdieus waren: sichtbar, glänzend, präsentabel.

In Deutschland hatte die Elite gleich zweimal hintereinander auf eine unfassbare Art und Weise abgewirtschaftet und hielt darum an sich. Und vielleicht ist es dieser Unwille in Deutschland, von solcher Blasiertheit auch nur lesen zu wollen, wenn im Roman von Mrs. Peniston gesagt wird, dass ihr etwas so unangenehm gewesen sei wie Küchengeruch im Salon.

Und, auch darin sind sich James und Wharton ähnlich, beide schauen aus alteuropäischer Perspektive kritisch auf den amerikanischen Kontinent, und leben schließlich beide in Europa, James in England, Wharton in Frankreich. Im bundesrepublikanischen Deutschland ist genau dieser skeptische Blick auf Amerika nie richtig kultiviert worden, man schwankte vielmehr stets zwischen unwissender Ablehnung und unkritischer Bewunderung.

Die Analysen und gelegenheitshalber eingestreuten Klugheiten der Wharton akzeptieren in gewisser Weise das Gefälle, das sich Gesellschaft nennt. Statt der Katastrophe der Gesellschaft also nur Katastrophen des Einzelnen. Denn Lily Bart gelingt es nicht, oder besser, nicht rechtzeitig, ihre spezifische Begabung, in allen Belangen gesellschaftlicher Umgangsformen Bescheid zu wissen, auf Dauer zu monetarisieren, weder als Geldheirat noch als Gründerin eines Bekleidungsgeschäfts.

In Lily Bart wird der Verlust einer sehr spezifischen Funktion für die Gesellschaft beschrieben, langsam und deutlich. Ein Rädchen, für das die Gesellschaft nach Edith Wharton keine richtige Verwendung mehr hat. Das sollte uns bekannt vorkommen.

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Wir helfen

Esther Gerritsen
Der große Bruder
Roman
Aufbau 2018

Die Familie ist Olivia Landmann wichtig. Mit ihrem Mann Gerard hat sie zwei halbwüchsige Jungen, Tom und Julius. Die Familie ist organisiert. Alle stehen mit beiden Beinen im Leben. Alles bestens also. Wenn man zu sehr ins Grübeln geriet, so heißt es an einer Stelle, ging man am besten Tennis spielen. Sie spielten eine Menge Tennis.

Ihre Aufgaben als Finanzdirektorin eines Porzellangeschäfts nehmen sie stark in Anspruch, ein Familienunternehmen, das vor ‚bedeutenden Herausforderungen der Zukunft‘ steht – wie es immer heißt, wenn es mehr Vergangenheit als Zukunft gibt.

Alles gerät für Olivia durcheinander mit dem Anruf ihres lange verschollenen Bruders Marcus, der ihr erklärt, dass man ihn in wenigen Minuten in den Operationssaal bringen werde, um ihm ein Bein abzunehmen. Warum ruft er nicht an, wenn man noch etwas unternehmen kann? Mit ihm meldet sich auch die Vergangenheit, die Olivia nun plötzlich größer erscheint, als die Zukunft.

In diesem knapp erzählten Roman, dem knappen Raum einer Kleinfamilie entsprechend, erzählt Esther Gerritsen vom unblutigen Einsturz der familiären Konstellation – einfach, weil jemand Hilfe braucht.

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Eine Haltungsübung

Matthias Drobinski
Lob des Fatalismus
Claudius 2018

In einem Sporthotel fand ich den Spruch an der Wand: Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Dort hatte man den Spruch, der vermutlich aus der Spontibewegung stammt, Brecht zugeschrieben. Brecht hatte ein Faible fürs Boxen, ich bin mir allerdings nicht sicher, ob hier nicht doch der politische Kampf gemeint war.

Sicher aber ist, dass man diesen Satz auch gegen den Fatalismus gerichtet verstehen kann. Gegen die Haltung, dass man allen Widerstand aufgibt, weil man mit großer Wahrscheinlichkeit verlieren wird. Drobinski aber unterscheidet hier hilfreich, und darin ist sein Essay ein wirklicher guter Ratgeber, zwischen dem Reden und Tun. Zu oft ersetzt das Reden das Tun, vor allem und gerade dann, wenn man eigentlich gar nichts mehr tun kann.

Drobinski führt den im Gefängnis einsitzenden Spion Rudolf Abel an, der gefragt wird, ob er sich denn keine Sorgen mache. Seine Antwort: Würde es denn helfen? Was auch immer dieser Spion damit meinte, es ist die Haltung, die Drobinski überzeugt.

Wir müssen wieder lernen, jedenfalls verstehe ich Drobinski so, in der Einsicht der Sachverhalte diese durch Reden nicht zu vergrößern. Man könnte das auch auf die mediale Vergrößerung anwenden. Da sind wir gewiss längst an dem Punkt, dass sie nur noch mediale und keine wirklichen Sachverhalte mehr sind. Nicht ohne Pfiff sind darum auch Drobinski Erläuterungen zur Flüchtlingskrise, deren jetziger Stand längst ein ganz anderer ist, als der medial und privat diskutierte Stand der Dinge.

Im Gegenteil, der medial vielfach gespiegelte, die tausendfach geteilte Mitteilung über die Welt verändert uns selbst und gerade nicht die Wirklichkeit. Drobinski schreibt: Der Banker mit bestem Einkommen, abbezahltem Haus in guter Lage und rundum sicherer Altersvorsorge, der sich trotzdem sorgt, dass er seinen Kindern nichts vererben wird. Dazu jener Leserbriefschreiber, der ankündigt, sich eine Pistole zulegen zu wollen aus Angst vor Einbrechern.

Wenn im Alten Testament der Baalskult geschildert wird, dann kann man darin die Anbetung der Macht, der Stärke und des Erfolgs erkennen. Ein Kult, der sich vor aller Unbill zu sichern weiß, indem er den Tod feiert und in den Tod geht. Dagegen ist das Christentum, so wie Drobinski es versteht, gerade da stark, wo es verusichert: Wer nicht alles Verunsichernde, Beängstigende und Irritierende aus seinem Glauben verbannt und sich einem ewig fraglosen Kinderglauben hingibt, muss diese Verunsicherung akzeptieren.

Im Bild des gescheiterten Gottes findet nach Drobinski auch der Fatalismus seinen Ausdruck. Ein Aushalten zwischen Schicksalsergebung und Schicksalsermächtigung, ein Aushalten, das darauf verzichtet, sich mit den Umständen gemein zu machen, das darauf verzichtet, sie durch wiederholte Klage gleichsam festzuschreiben. Drobinski hat eine absolut brauchbare intellektuelle Haltungsübung für unsere Zeit geschrieben.