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Prinz der Prinzen

Simon Sebag Montefiore
Katharina die Große und Fürst Potemkin
Eine kaiserliche Affaire
S. Fischer 2009

Himmelsstürmer? Vielleicht, ja! Aber Überflieger? Doch nicht Potemkin, der Namensgeber der sprichwörtlichen potemkinschen Dörfer. So kann man bei Montefiore sich erzählen lassen, wie alle Lebensleistung zuschanden wird durch die Gehässigkeit der Neider. Grigori Alexandrowitsch Potemkin, Fürst und Feldmarschall, Oberbefehlshaber der russischen Armee, Großhetman der Kosaken, Großadmiral des Schwarzen und des Kaspischen Meeres und Vizekönig des Südens, wahrscheinlich auch der heimliche Ehemann Katharinas der Großen. Was Montefiore an Forschungsliteratur zur Verfügung stand, deutet Potemkin unisono als Wüstling, Hochstapler, Stümper. Dieses Buch ist dagegen eine von Montefiore großartig erzählte literarische Ehrenrettung Potemkins, die auf jeder Seite Vergnügen, reines Vergnügen bereitet. Ach, wieso heißt das Buch Katharina die Große und Fürst Potemkin? Und nicht wie das Original Prinz der Prinzen. Das Leben Potemkins? Na, damit Sie es kaufen! Das sollten Sie aber auch tun!

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Die besten deutschsprachigen Sachbücher des Jahres 2009

Wolfgang Martynkewicz
Salon Deutschland. Geist und Macht 1900 – 1945
Aufbau 2009

in der Kategorie erzählendes Sachbuch, Geschichte

Der Salon, schreibt Martynkewicz irgendwo, kenne kein Protokoll und keine Sitzordnung. So ist auch sein großartiges und unkonventionelles Buch ein Salon, der zeigt wie aus verstiegener Kunst, Philosophie und Literatur, gelangt sie zur Macht, Bestialität hervorgehen kann.

Martin Bojowald
Zurück vor den Urknall
Die ganze Geschichte des Universums
S. Fischer 2009

in der Kategorie erzählendes Sachbuch, Naturwissenschaft

Martin Bojowalds vereinfachte Beschreibung des Universums, die die als unvereinbar geltende Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie berücksichtigt, versteht man solange man sie liest. Das ist schon sehr viel und für ein populäres Sachbuch fast alles.

Sven Hillenkamp
Das Ende der Liebe.
Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit
Klett-Cotta 2009

in der Kategorie erzählendes Sachbuch, Zeitgeschichte

Hillenkamp durchkreuzt – Besseres lässt sich über ein Sachbuch nicht sagen – alle Erwartungen. Eine ausgezeichnete, weil hochdiszipliniert geschriebene Suada. Eine Kunst des Liebens für unser Medienzeitalter, das aus den Menschen bloße Medien ihrer Erlebnisse zu machen scheint.

Nachbemerkung: Hillenkamp erhält der Clemens Brentano Preis 2010 der Stadt Heidelberg.

Ines Geipel, Andreas Petersen
Black Box DDR.
Unerzählte Leben unterm SED-Regime
marixverlag 2009

in der Kategorie Reportage

Eine Sammlung einzelner Reportagen und Berichte über 33 vorsätzliche „Abweichler“, die auf ergreifende Art und Weise zeigen, was abweichendes Verhalten eigentlich ist.

Eric Chauvistré
Wir Gutkrieger.
Warum die Bundeswehr im Ausland scheitern wird
Campus 2009

in der Kategorie Thesenbuch

Das Buch zum Heer der Illusionen. Schnell und klar wie ein Rückzug.

Kerstin Decker
Mein Herz – Niemandem
Das Leben
der Else Lasker-Schüler
Propyläen 2009

in der Kategorie Biografie

Eine fabelhaft geschriebene Biografie. Hier zu einer Besprechung.

Peter Sloterdijk
Du mußt dein Leben ändern
Über Anthropotechnik
Suhrkamp 2009

in der Kategorie Ratgeber

Man lernt Gedanken lesen.

Jury: Michael Schikowski

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Zu den besten deutschsprachigen Sachbüchern des Jahres 2014, des Jahres 2013, des Jahres 2012, des Jahres 2011, des Jahres 2010, des Jahres 2008.

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Finde ich das Glück beziehungsweise?

Es ist Samstag Abend, Köln Hauptbahnhof, zwar ist nicht Karneval, aber trotzdem sieht man mehrere Gruppen verkleideter Menschen durch den Bahnhof streunen. Meistens alle im gleichen T-Shirt. Oft mit einem Foto bedruckt und einen schwachsinnigen Spruch wie „Guidos letzter Tag in Freiheit“. Was Guido droht ist nicht Haft, sondern die Ehe. Es ist ein Junggesellenabschied. Vielleicht begann auch diese Beziehungsgeschichte von Guido bei neu.de oder Facebook. Nun, Guido ist entschieden und löst das Dilemma des Sokrates – „Heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen“ – durch eine Entscheidung.

Findet mich das Glück? Und passen wir überhaupt zusammen?

Für Frauen bleibt mit der Heirat allerdings die Frage der Fragen für die Suche nach dem perfekten Leben ungelöst: Wann werde ich schwanger? Dann aber noch: Werde ich überhaupt Kinder bekommen können? Gegenüber einem männlichen Dilemma sind die Möglichkeiten der Selbstfrustration unter Frauen doch erheblich vielgestaltiger. Und sie werden, wenn man Florentine Fritzen glauben darf, fast alle genutzt.

Ein Mann lebt seit drei Jahren mit einer Frau zusammen. Sie haben sich tatsächlich über eine Internetseite kennen gelernt. Irgendwann fällt der Frau ein, dass noch ihr Profil im Internet steht, mit dem sie sich auf Partnersuche begeben hat. Mit Fotos. Reisebilder aus Vietnam. Jetzt hat sie das Gefühl, dass zwischen den Bildern und ihr ein ungeheurer Abstand herrscht. Sie sucht nach seinem Profil und findet es mit einem kleinen blinkenden Sendemast! Als er nach Hause kommt, sagt sie: „Du hast weiter gesucht.“ Er leugnet nicht, behauptet aber, sich nie mit jemanden verabredet zu haben. Die Nachrichten, die er erhielt, habe er nie beantwortet. „Du warst die ganze Zeit über an einem anderen Ort“, sagt sie, „in einer anderen Zeit. Ich bin ein Versuch für dich gewesen, nicht einmal das, ein Provisorium. Du hast dich in meiner Liebe, in unserem Leben aufgehalten wie in einem Wartezimmer.“

Ist es tatsächlich so, wie Mark Zuckerberg, der Gründer von facebook, irgendwo behauptet, dass sich die sozialen Gewohnheiten dem anpassen, was technologisch möglich ist? Werden uns Castingshows, twitter, StudiVZ und facebook so verändern, dass jegliches Schamgefühl verloren geht. So warnt jedenfalls Simons uns, aber besteht diese Gefahr wirklich? Oder drückt sich darin nur Gefühlskultur der Mittelschicht aus, mit ihrer eindringlicher Selbstprüfung und Reflexivität. Soziale Stellung und Seelenhaushalt entsprechen einander und Gefühle werden zu sozialen Ressourcen konvertiert. Zum Beispiel zu der, anders zu sein, ein Buch, wie das von Simons geschrieben zu haben. „Das Gesindel lebt sich aus und wir entbehren“, schreibt Sigmund Freud in einem Brautbrief.

Mit John Stuart Mill kann man diese Beispiele so kommentieren: „Lieber ein unglücklicher Sokrates als ein glückliches Schwein“. Bei Guido – Sie erinnern sich, der vom Bahnhof – wird aus der Episode eine Erzählung, bei der der Junggesellenabschied von untergeordneter Bedeutung sein wird. Das geschmacklose T-Shirt endet vermutlich als Polierlappen der Chromteile seines Motorrads. Bei dem zweiten Beispiel von Hillenkamp gelingt die gemeinsame Geschichte nur scheinbar, denn er sucht die alte Intensität für seine Affekte und Begierden zu erhalten. Zu Recht vielleicht, denn schließlich leben wir ja in Zeiten, in denen die Selbsterhaltung relativ gesichert ist. Hampe schreibt: „Menschen möchten in einzelnen Lebenssituationen möglichst intensive positive Gefühle empfinden, aber sie wollen auch, dass ihr Leben einen Zusammenhang ergibt, den man wie eine gut erzählte Geschichte nachvollziehen kann, und es nicht einfach in einzelne Episoden zerfällt.“ Dieses Verhalten ist nicht ganz so neu.

Im ersten Akt von Don Giovanni prahlt Leporello, sein Herr habe allein in Spanien über 1000 Frauen verführt und sagt, damit es glaubwürdiger wirkt die genaue Zahl: 1003. Das ist ein nur mittelmäßiger Durchschnitt meinen die Ornithologen. Verteilt man Don Giovannis Aktivität auf dreissig Jahre, verführte er nur alle elf Tage eine Frau. Da sind die Trauerschnäpper mit ihrer Praxis der APK, der „Außer-Paar-Kopulation“ effektiver. Die Männchen verlassen kurzfristig die Beziehung und machen durchschnittlich alle 25 Minuten den Versuch einer APK, aber alle elf Minuten schleicht sich ein anderes Männchen mit der gleichen Absicht in ihr Revier. So ist fast jeder vierte Trauerschnäpper illegitim.

Die Episodenhaftigkeit der Beziehungen, die Jared Diamond bei den Trauerschnäppern darstellt, die Hillenkamp konstatiert und Simons beklagt, hat ja unter Umständen auch etwas für sich. Michael Hampe schreibt: „Die Fähigkeit zu beobachten, die ganze Aufmerksamkeit auf das, was gerade geschieht, richten zu können, ohne es als etwas zu nehmen, das für anderes als es selbst steht, diese Beobachtungsfähigkeit ist die Grundlage für eine Lebenseinstellung, die zu einem glücklichen Leben führt.“ Kann sein, dass diese Einsicht dann an Boden verliert, wenn man auf dem Beziehungsmarkt zunehmend erfolgloser wird. Die Zuschreibung der Verantwortung für seine Form und sein Aussehen, trägt man mit zunehmenden Alter immer schwerer. Kann sein, dass Guido froh ist, auf diese Weise vom Markt genommen zu werden. Der Merksatz für diejenigen, die nicht Guidos Schicksal haben, lautet: Ihr sollt nicht leben, sondern euer Leben einteilen und zwar, meint Sloterdijk als Überbietungsdenker, in Trainingseinheiten. Das Ich ist ein Projekt und der jeweilige Ichinhaber ist Abend für Abend sein Unternehmer. Die Fälle von Selbstkonkursverwaltung nehmen allerdings zu.

Jared Diamond
Warum macht Sex Spaß?
S. Fischer 2009

Florentine Fritzen
Plus minus 30
Artemis & Winkler 2009

Michael Hampe
Das vollkommene Leben
Hanser 2009

Sven Hillenkamp
Das Ende der Liebe
Klett Cotta 2009

Martin Simons
Vom Zauber des Privaten
Campus 2009

Peter Sloterdijk
Du mußt dein Leben ändern
Suhrkamp 2009