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Die verwahrlosten Staaten von

James Leo Herlihy
Midnight Cowboy
Roman
Blumenbar 2018

Sie haben nicht einen Pieps, nicht einen einzigen Pieps über diejenigen gehört, die einsam sind. Und wissen Sie auch warum? Weil es für die Einsamen keine Seligsprechung gibt. Nirgends in der Bibel steht, dass sie gesegnet sind. Nicht ein einziges Mal.

So Mr. O’Daniel zu Joe Buck. Joe Buck wird von Rico Rizzo, dem verkrüppelten Schwindler, nach der Übergabe einer unverschämten Vermittlungsgebühr, zu O’Daniel geschickt, der ihn als Gigolo vermitteln könne. Mr. O’Daniel aber spricht mit ihm über die Bibel.

Joe Buck, bei seiner Großmutter aufgewachsen, hat wenig gelernt und kann wenig und ist überaus leichtgläubig. Wir lernen ihn zu Anfang des Romans als Tellerwäscher kennen, der sich eine Garnitur von Cowboystiefeln, Hemden und einen nahezu kultisch behandelten Koffer aus Pferdeleder beschafft hat. Dann reist er nach New York mit dem Gedanken, sich zu prostituieren – eine Gedanke, der vor allem auf falschen Vorstellungen von der Welt beruht.

Joe Buck trifft Rizzo wieder. Aber Joe, der drei Wochen lang obdachlos und allein durch die Straßen gewandert war, eine lange Zeit in der Zeitrechnung der Vorhölle, war hocherfreut, einen Mensch zu erblicken, den erkannte. Sein ganzes Wesen schien sich verblüfft dieser regen, unerwarteten Freude hinzugeben, und er brauchte recht lang, um sich zu erinnern, dass Rico Rizzo sein Feind war.

Die Naivität Joe Bucks führt ihn immer tiefer in die Halbwelt. Der amerikanische Traum, zu dem er auch sein Gegenüber einmal verführt, der ihn nicht zu Wort kommen lässt, allein damit er in ihm eine Mischung aus Gary Cooper und Ronald Colman sehen kann, wird ihm zu einem Schicksal der Isolation, des Asozialen.

James Leo Herlihy gelingt mit diesem Buch das große Kunstwerk eines überaus traurigen Romans, der uns nichts weniger als glücklich macht.

Die Wahrheit über das Lesen

Bénédicte Carboneill, Michael Derullieux
Der Lesewolf
Midas 2018

Der Wolf ist ein mächtiges und gefährliches Tier. Er beobachtet, wie einem Kind vorgelesen wird. Im Gegensatz zum einsamen Wolf entdecken wir hier sofort den Kern des Vorlesens: Zuwendung.

Wie geht die Geschichte weiter? Der Wolf, im Besitz des Buches, kommt trotz seiner Zähne, die sonst alles geknackt bekommen, die Geschichte nicht aus dem Buch: Das Buch stellt gewohnte Kräfteverhältnisse in Frage.

So furchtlos und stark der Wolf ist, an dieses Buch kommt er ohne fremde Hilfe nicht heran. Wer aber traut sich? Er muss jemanden finden, der noch mutiger ist als er selbst. Dass sich der Hase traut, zeigt: Lesen machen tollkühn.

Wir sind Verhaltensdaten

Shoshana Zuboff
Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus
Campus 2018

Vielleicht ist es eine der größten Irrtümer in der Diskussion über den Buchhandel, dass es sich bei Amazon um einen Buchhändler handeln soll. Nicht, weil dieses Unternehmen nur online handelt, nicht weil es sehr groß ist, sondern weil es ein grundsätzlich anderes Geschäftsmodell hat, als das der Buchhändler. Buchhändler handeln mit Büchern. Amazon handelt mit Daten, die durch den Kauf u.a. von Büchern entstehen.

Der andere große Irrtum in der Diskussion der Digitalisierung ist ihre Erzählung als Befreiungsgeschichte. Die allerdings beruht eigentlich nicht auf einem Irrtum, sondern auf gezielter Desinformation. Das lässt sich an den Versuchen der Bargeldabschaffung durch Paypal, WeChat oder Amazon Go besonders deutlich machen. Gegen solche Erzählungen hilft nur der Rückgriff auf große Texte. In diesem Fall Georg Simmels Philosophie des Geldes, in dem er das Geld als Medium der Befreiung schildert. Wir geben es aus wo und wann wir wollen und sind niemandem Rechenschaft schuldig.

Das Wesen des Überwachungskapitalismus aber ist, alle gesellschaftlichen Prozesse so lange zu problematisieren – im Falle von Geld ist immer die Rede von Schwarzgeld, Drogengeld und der Mafia – bis ihre Digitalisierung als die einzig vernünftige Lösung erscheint. Probleme werden als solche also gar nicht in den Blick genommen, sondern nur im Hinblick darauf, dass sie digitalisierbar werden. Ist dies erreicht, wird deutlich, dass der eigentliche Sachverhalt für die Digitalkonzerne jedes Interesse verliert, denn er ist nur die Oberfläche des darunter verborgenen Zwecks: Lieferanten von Verhaltensdaten zu sein.

Shoahana Zuboff hat es nun unternommen, die lange Entwicklung des Überwachungskapitalismus in einer fulminanten und überfälligen Gesamtdarstellung zu beschreiben. Sie zeigt, dass wir uns längst angewöhnt haben, die analoge Welt als Problem zu beschreiben, dessen Lösung die Digitalisierung sei. Wo der Überwachungskapitalismus in der Vergangenheit institutionell scheiterte, ist er heute umso erfolgreicher. Wo er heute noch als Problemlöser erscheint, ist er morgen schon totalitär.

Zuboff schreibt: So wie die Industriezivilisation auf Kosten der Natur florierte und uns heute die Erde zu kosten droht, wird eine vom Überwachungskapitalismus und seiner instrumentären Macht geprägte Informationszivilisation auf Kosten der menschlichen Natur florieren.