// 2012

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Dialektik des Schädels

Tobias Quast
Der Tod steht uns gut
Vanitas heute
Nicolai 2012

Der Schädel, das war einmal der große Gleichmacher. Der Sozialist des Christentums. Denn ihm war nicht anzusehen, ob sein Träger schön oder hässlich, arm oder reich war. Einerseits. Denn andererseits bedeutete diese Gleichmacherei auch, dass man immer selbst gemeint war. Deshalb der Schrecken, den der Schädel bereitete.

Inzwischen hat der Schädel jeden Schrecken und auch alles irgendwie Anstößige, das ihm noch vor Jahrzehnten anhaftete, verloren. Das Anstößige bestand genau darin, dass der Schädel ein Zeichen war, das sich an den Einzelnen richtete, das ihm zeigte: „Es ist alles eitel.“ Nun klebt der Schädel überall und weist ins unbestimmte Allgemeine.

Wieviele facebook-Freunde, die man hat, sind schon tot? Wenn es mehr werden und immer weniger nachrücken, wie verhält man sich dann? Im Kapitel „Vanitas digital“ erläutert Quast, dass man das Profil eines Verstorbenen in einen Gedenkmodus bringen kann, bei dem der Freundeskreis eingefroren wird und nur noch dieser auf die Seite zugreifen kann. Ein Himmel digitaler Ewigkeit, statt der sprichwörtlichen Wolke, auf der der Verstorbene sitzt, nun die Cloud.

Tobias Quast, der über Funktion und Wandel der Vanitas im Werk von Alexander Pope promovierte, hat einen ebenso eleganten wie intelligenten Essay zum Vanitas-Motiv in Literatur, Theater, Film und Internet geschrieben. Darin zeigt er überzeugend, dass der übermäßige Gebrauch dieses Motivs ins Gegenteil umschlägt und, wie es bei Quast heißt, im Falle des Vanitas-Motivs in ein „Versprechen eines neuen Jenseits“ mündet.

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Das beste Sachbuch und die besten Sachbücher 2012

Ausgezeichnet werden für das Jahr 2012 Bücher in den folgenden Kategorien: erzählendes zeitgeschichtliches Sachbuch, erzählendes historisches Sachbuch, erzählendes naturwissenschaftliches Sachbuch, Bildsachbuch, Reportage, Essay, Biografie und Ratgeber.

Die besten deutschsprachigen Sachbücher des Jahres wurden bereits 2008, 2009, 2010 und 2011 präsentiert. Ein Preisgeld steht nicht zur Verfügung. Jury: Michael Schikowski.

Das beste Sachbuch des Jahres 2012:

Rainer Merkel
Das Unglück der anderen
Kosovo, Liberia, Afghanistan
S. Fischer 2012

Rainer Merkel schreibt über das Trauma. Das Trauma ist ohne Dauer, ohne Spur, ohne Gedächtnis. Eine Auslöschung der Chronologie. Merkel gelingt es, dies in seinem großartigen Buch sprachlich nachzustellen. Der Traumatologe ist sich immer selbst der Nächste.

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In der Kategorie
bestes erzählendes zeitgeschichtliches Sachbuch:

Michael Horeni
Die Brüder Boateng
Tropen 2012

Michael Horeni hat über die Bedingungen von Karrieren ein Buch geschrieben. Es ist großartig geschrieben, einfach und klar und höchst intelligent gebaut. An der Brüdern Boateng, George, Kevin und Jérome, zeigt Horeni die Lebensläufe entlang an einer Linie. Man könnte sie die Eisdecke des sozialen Aufstiegs nennen. Zur ausführlichen Besprechung hier.

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In der Kategorie
bestes erzählendes historisches Sachbuch:

Florian Illies
1913
Der Sommer des Jahrhunderts
S. Fischer 2012

Ein elegant gestaltetes und gelungenes Sample des Jahres 1913, lebensnah und jenseits der historischen Schinken.
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In der Kategorie
bestes erzählendes naturwissenschaftliches Sachbuch:

Lennart Pyritz
Madagaskar
Von Makis und Menschen
Springer Spektrum 2012

Lennart Pyritz kam als Primatenforscher nach Madagaskar und fand eine Insel vor, die eine eigene politische Geschichte und Kultur besitzt. All dies schildert sein Buch auch mit Hilfe anderer höchst kompetener Beiträger. Mit einem dicken Tagebuch voller Erlebnisse kam er zurück und machte aus all dem ein großartig bebildertes und alle Facetten des Landes darstellendes Buch.
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In der Kategorie
bestes Bildsachbuch:

Dagmar Röhrlich
Urmeer
Die Entstehung des Lebens
mare 2012

Wie „Tiefsee“ ist auch dieses reich und schön bebilderte Buch über das Urmeer ein Haus- und Lesebuch im besten Sinne. Das Radio, für das Dagmar Röhrlich arbeitet, hört man mit. Ein Sound, der sofort in den Bann zieht.

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In der Kategorie
beste Reportage:

Annett Gröschner
Mit der Linie 4 um die Welt
DVA 2012

Unprätentiös, wie die Wahl der schnöden 4, ist das ganze wunderbare Buch, immer genau und niemals literarisch künstlich aufgebrezelt. Man liest und liest. Und dann ruckelt’s doch. Endstation! Ach!

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In der Kategorie
bester Essay:

Bernd Brunner
Die Kunst des Liegens
Handbuch der horizontalen Lebensform
Galiani 2012

Wenn man das gewöhnliche Herumliegen nur etwas höherlegen möchte, dann greife man zu Bernd Brunners ‚Kunst der Liegens‘ als einen gescheiten kulturgeschichtlichen Essay.

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In der Kategorie
beste Biografie:

Jörg Magenau
Brüder unterm Sternenzelt
Friedrich Georg und Ernst Jünger
Klett-Cotta 2012

Die Nähe zu Größen ist immer gefährlich, allemal zu solchen wie Friedrich Georg und Ernst Jünger welche sind, Magier für die einen, Zundelfrieder für die anderen. Jörg Magenau ist all dem gewachsen und kommt ihnen näher, in einer eigenständigen und doch angemessen nahen Doppelbiographie: als Erzählung.

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In der Kategorie
bester Ratgeber:

Constanze Kleis
Sterben Sie bloß nicht im Sommer
und andere Wahrheiten, die Sie über Ihr Ende wissen sollten
Dumont 2012

Sterben müssen wir alle. Sich darauf vorzubereiten, hilft dieses Buch. Vielleicht geht es bald in der eigenen Umgebung los? Dann ist man bald selbst dran. Und weiß zugleich: das Lesen über Sterben und Tod ist ohne Trainingseffekt.

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Hier zum besten Sachbuch und den besten Sachbüchern des Jahres 2014, des Jahres 2013, des Jahres 2011, des Jahres 2010, des Jahres 2009 und des Jahres 2008.

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Eine Jugend in Deutschland

Willy Brandt
Links und frei
Mein Weg 1930-1950
Hoffmann und Campe 2012

Das Buch erschien zuerst 1983. Es ist ein Lehrstück über eine Jugend in Deutschland, die man, wenn man Sozialist war, nicht in Deutschland verbringen konnte. Das Buch ist einfach und klar. Umgeben von unglaublicher Angeberei und Schreierei wird ein junger Mann unpathetisch und bleibt reduziert bis zur Trockenheit.

An einer Stelle schreibt Brandt: „Obwohl die Sozialdemokraten die Hauptlast der politischen Auseinandersetzung mit den Kommunisten trugen, wurden sie als deren heimliche Komplizen denunziert.“ Vielleicht hat Peter Hintze, der Generalsekretät der CDU, diesen Satz zum Anlass genommen, seine „Rote-Socken-Kampagne“ von 1994 zu starten. Oder er kannte die Reflexe einfach.

Es ist recht unbillig vom Hoffmann und Campe Verlag, das Buch nach dreissig Jahren einfach unverändert nachzudrucken. Lediglich das Glossar wurde stillschweigend aktualisiert. Willy Brandts 100. Geburtstag wird im Dezember 2013 gefeiert. Eine kommentierte oder zumindest neu eingeleitete Ausgabe wäre höchst wünschenswert gewesen.