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Was wir sehen müssen

28011463_9783351036706_xlGusel Jachina
Suleika öffnet die Augen
Roman
Aufbau 2017
aufbau taschenbuch November 2018

Unsere Verbindung zu den früheren Generationen ist durchbrochen, sie ist abgerissen, schreibt Gusel Jachina. Nun hat sie den Roman über die Generation geschrieben, die die Stalinzeit und die Zeit der Deportationen erlebte und zeitlebens schweigen musste. Suleika öffnet die Augen wurde in Russland ‚Buch des Jahres‘. Gusel Jachina erhielt den Jasnaja Poljana-Preis.

Gusel Jachina beherrscht virtuos die zwei wichtigsten Instrumente, die Verbindung zur eigenen Vergangenheit wieder herzustellen: Imagination und Information, mit anderen Worten Geschichten und Geschichte. Sie erzählt das Leben von Suleika, der verschleppten jungen Frau eines Bauern, der, als sogenannter Kulake, nach den Vorstellungen der kommunistischen Partei ein Feind der Revolution ist. Sie erzählt von Wolf Leibe, der von den Schrecken des Bürgerkriegs halb irrsinnig und bei der GPU denunziert wird und im Irrsinn der Deporation wieder zu sich kommt. Und der Roman erzählt von Ignatow, dem überzeugten Rotarmisten, der die Deportation leitet.

Die Bedingungen des Lagerlebens – die erste Gruppe wird mit nichts weiter als ein wenig Werkzeug und einem Gewehr am Ufer der Angara in Sibirien ausgesetzt – werden zum größeren Teil von der Natur bestimmt. Den anderen Teil bestimmt der Hunger. Alles andere ist Ideologie. Und die wird rein funktional eingesetzt. Mitte Februar 1930 fassen das Zentralexekutivkomitee und der Rat der Volkskommissare der Tatarischen ASSR den Beschluss „Über die Liquidierung des Kulakentums in Tatarien als Klasse. Da sich diese Liquidierung nicht wie gewünscht entwickelt, erreicht man das Ziel auf dem Wege der Klassifizierung: Gefangene der GPU werden kurzerhand zu Kulaken erklärt. Unter diesen dann Wolf Leibe.

Kulak ist ein volkstümlicher Begriff, der im Russland des 19. Jahrhunderts entstand, er bedeutet wörtlich ‚Faust‘ und bezeichnete mitunter auch den durch Faulheit und Alkoholismus verarmten und der Gemeinschaft zur Last fallenden Bauern. Um ihren Klassenkampf aufs Land zu tragen, schlossen die Bolschewiki an diese Tradition der abwertenden Bedeutung an.

Als es den aus Tatarstan verschleppten Bauern nach einigen Jahren der Verbannung in Sibirien eine halbwegs gesicherte landwirtschaftliche Existenz aufzubauen gelingt – einige haben die Baracken verlassen, sich eigene feste Häuser gebaut und Familien gegründet – spricht man in Moskau 1937 vom ‚Wachstum des Kulaken‘. Neue Repressalien und Bestrafungsaktionen bis in den Geheimdienst des NKWD hinein beginnen. Unter diesen Opfern Ignatow.

Suleika öffnet die Augen ist ein großartiger Roman, der die Geschichte, die im Gedächtnis der russischen Gesellschaft kaum einen Platz bekam, in Geschichten erzählt und damit die Verbindung zur Vergangenheit wieder herstellt. Suleika öffnet die Augen und wir mit ihr.

Das stille Vergnügen

27988488_9783283012502_xlPeter Boxall
1001 Bücher, die Sie lesen sollten,
bevor das Leben vorbei ist.
7. Auflage
Olms 2017

 

Lesen ist ein stilles Vergnügen, ein Kind des Alleinseins und der Vertiefung, eine Amme der Tagträume und Grübeleien, die Geliebte aller Leidenschaften und ein Anstifter zu Abenteuer und Wandel.

Peter Ackroyd im Vorwort

Wagnis und Verantwortung

27220486_9783958901179_xlKonrad Heiden
Adolf Hitler
Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit
Ein Mann gegen Europa
Europa 2016

Auf dem Grabstein von Konrad Heiden steht das Epitaph: Writer, Foe of Nazis. Heiden wurde 1901 in München geboren und starb 1966 in New York. Dass ein Buch von Stefan Aust – der Heiden übrigens auch die Erfindung des Kürzels Nazis zuschreibt – an ihn erinnert, hat vielleicht auch mit der Tatsache zu tun, dass es wieder notwendig wird, über das Selbstverständnis des Journalismus und die Verantwortung des Journalisten nachzudenken.

Dafür ist Konrad Heiden als Journalist und sind seine Bücher als Werke der Hochzeit des Journalismus großartige Beispiele. 1932 erschien mit „Die Geschichte des Nationalsozialismus – Die Karriere einer Idee“ Heidens erstes Buch bei Rowohlt. Ein weiteres beschäftigte sich mit dem Aufbau des Nationalsozialismus. Es wurde bereits in der Emigration in Emil Oprechts Europa Verlag in Zürich publiziert.

1936 erschienen dann im Europa Verlag „Adolf Hitler – Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit“ und im Jahr darauf als zweiter Band „Adolf Hitler – Ein Mann gegen Europa“. Beide Bücher sind nun in einem Band zusammengefasst in einer Neuausgabe herausgekommen. Es sind diese Bücher, die den Verleger Lars Schultze-Kossak bewogen haben, den Europa Verlag am Leben zu erhalten.

Konrad Heiden trägt in beiden Büchern eine Unmenge Material über Hitler und den Nationalssozialismus zusammen, bereitet es erzählerisch auf und setzt gleich mit dem ersten Satz den Maßstab: Dieses Buch verdankt seine Entstehung dem Bedürfnis auszusprechen, was ist. Der schäumenden Schreierei der Nazis setzt er seinen klaren Lapidarstil entgegen. Schultze-Kossak vermutet in einer Einleitung zu dieser Neuausgabe denn auch, dass es sein jounalistischer Stil und seine formal unwissenschaftliche Herangehensweise seien, die dazu führten, dass Konrad Heiden von den Historikern unbeachtet blieb.

Es mag der Forschung im Jahre 1937 zu einem abschließenden Urteil über Hitler zu früh gewesen sein, zumal auch der Weg in die Archive mit Gefahr verbunden war. Heiden ging dieses Wagnis eines Urteils ein – die Schweiz war durchaus kein sicherer Ort –  und ihn interessierte an Hitler schon damals einfach alles. Vielleicht ist das Journalismus?

Heiden erwehrte sich dabei auch des Vorwurfs der Aufwertung Hitlers durch eine geschlossene Gesamtdarstellung. Alfred Kerr reimte hämisch gegen Heiden: So, wenn er ihm gehorsam huldigt, / ist auch das deutsche Volk entschuldigt. Heiden aber sah das Problem durchaus und schreibt in der Einleitung: Objektivität ist nicht Standpunktlosigkeit. Der „Held“ dieses Buches ist weder Übermensch, noch ein Popanz, sondern ein sehr interessanter Zeitgenosse (…). Es gibt in der Geschichte den Begriff der wertlosen Größe. Sie drückt oft tiefe Spuren in die Menschheit, aber es sind keine Furchen, aus denen Saat aufgeht.

23314274_23314274_xl Vielleicht fehlte den Hitler-Gegnern bei Konrad Heiden die vollständige Ablehnung, die absolute Verachtung, eine Haltung, die alles und jedes, das man im nationalsozialistischen Deutschland zurückließ, verdammte. Konrad Heiden macht sich dem Gegner aber nicht ähnlich. Vielleicht ist das der Journalist? Er trägt im Zeitalter der Verantwortungslosigkeit Verantwortung.

An einer Stelle schreibt Heiden: Hitler sagte: „Ich trage restlos die Verantwortung für alles, was in der Bewegung vorfällt.“ Er trägt sie aber nicht, denn niemand kann ihn zur Verantwortung ziehen. Er hat nur seinen Anhängern die Verantwortung abgenommen und sie weggeworfen.