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Plätze, Kampfplätze, Gemeinplätze. Die Philosophie und der Agon

Kurt Flasch
Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire
Vittorio Klostermann 2008

Für sein Buch Kampfplätze der Philosophie erhält Kurt Flasch den Tractatus-Preis für philosophische Essayistik 2010. Die Jury hebt hervor, dass Flasch mit seiner anschaulichen Sprache zeige, dass das Denken immer aus lebendigen Kontroversen besteht und keine Angelegenhiet einer festgelegten Wahrheit sei. Die folgende Besprechung von Michael Buchmann erschien im Dezember 2008.

Weshalb verwenden Philosophen so häufig Metaphern aus der Sprache der Kriegskunst, wie „Selbstverteidigung“, „Schlagabtausch“, „Angriff“, „Kampf“, „Sieg“, „Wortschlacht“? Auch in als selbstverständlich verwendeten Fremdwörtern wie „Polemik“ und „Eristik“ ist der Agon direkt in der Bedeutung enthalten, sublimiert erscheint er auch in Begriffen wie „Dialektik“, „Immunisierung“ usw.

Diese Tatsache erscheint umso erstaunlicher, als – wie Flasch seinerseits in polemischer Absicht darstellt – einige Philosophen sich die „Philosophie als ruhige Weisheit oberhalb aller Parteiungen“ vorstellen. Sein neues Buch „Kampfplätze der Philosophie“ ist daher zweierlei: einmal eine hervorragende Darstellung vor allem der mittelalterlichen Philosophie anhand von Kontroversen, und dann eine lebhafte Streitschrift gegen eine Philosophiegeschichtsschreibung der „Synthese“.

Konzentrieren wir uns also statt auf Flaschs in herausragender Weise neuartige Darstellung mittelalterlicher Philosophie, die einen endlich verstehen lässt, wie die Philosophie im Mittelalter „funktionierte“, auf die für das Fach noch entscheidendere und stets unterhaltsame Auseinandersetzung des Autors mit seinem eigenen zeitgenössischen Gegner. Bevor er allerdings den Angriff startet, sichert er zuerst seine eigene Position (ein taktisches Vorgehen, das er von Sun Tzu gelernt haben könnte). Konkret bedeutet das, er beschreibt und rechtfertigt seine Methode, allerdings stets in Hinblick auf seine übergeordnete Strategie, die hegelsche Philosophiegeschichtsschreibung an ihren Schwachstellen zu treffen, die man kurzerhand zu den eigenen Stärken macht – die Brüche und Unvereinbarkeiten in Form von Konflikten und Auseinandersetzungen:

„Es [dieses Buch] zeigt die Philosophie als eine Serie von Konflikten. Es geht von gut dokumentierten Streitgesprächen aus, nicht von Begriffen oder Systemen. Philosophie als Polemik – das klingt garstig, kommt aber der geschichtlichen Wirklichkeit näher als die Erwartung harmonisierenden Tiefsinns. […] Daher sind Kontroversen der Philosophie immanent. Sie bilden nicht deren Außenseite. […] Da kämpften Autoren miteinander um das, was gut oder schlecht, wahr oder falsch sei, […] Ich zeige Kampfsituationen. Ich widerspreche einer früheren Forschungs- und Darstellungspraxis, die auf ‚Synthese‘ aus war. Ihre Weichzeichnerei hatte Methode, aber sie war unhistorisch.“

Diese Betonung auf die Ausrichtung nach konkreten Quellen ist rein fachlich durchaus problematisch: Natürlich wird der Interpretationsspielraum durch diese Praxis etwas geringer und damit die Genauigkeit höher. Aber nicht erst seit Nietzsche weiß man, dass auch sogenannte „Quellen“ oder „Tatsachen“ stets durch Interpretation vermittelt sind; die Interpretation steckt auch schon in der Auswahl der Quellen und der Zitierweise. All das weiß natürlich Flasch sehr gut, aber seine Art der Darstellung ist Teil seiner Auseinandersetzung mit seinem Gegner. Durch die wiederholte Betonung der alleinigen Ausrichtung auf gut dokumentierte Quellen macht er sich den Reiz des Faktualen und die Auffassung von der wissenschaftlichen Solidität positivistischen Vorgehens nutzbar.

Seine unbestrittenen Fachkenntnisse verschaffen ihm aber auch einen enormen Vorteil, da er dadurch über mehr taktische Mittel als der Gegner verfügt, sozusagen über einen absoluten Geländevorteil. So kann er von seiner Position aus in aller Ruhe, ja genüsslich die Stöße des Gegners gegen diesen selbst wenden – es stellt die Kryptomethode dieses Buches dar.

Da wäre zum Beispiel die Frage nach der Nützlichkeit und Anwendbarkeit philosophischer Erkenntnisse im Mittelalter. Der Topos, mittelalterliche Philosophie sei reine „Scholastik“, beinhaltet die Vorstellung, sie sei reiner Streit um Begriffe, zudem theologische, gewesen. Flasch dreht einfach die Selbstverständlichkeiten um: „Wofür brauchte Alkuin die Philosophie? Der Einfall, daß sie Selbstzweck sein könnte, konnte ihm nicht kommen in einem Europa, das aus Wäldern bestand […]“. Nachdem er dieses Herantragen des Vorwurfs der Nutzlosigkeit an die Philosophie dieser Zeit erstens als nicht aus ihr selbst folgend und damit als begründungsbedürftig herausgestellt hat, geht er selbst zum Angriff über, indem er nach der Herkunft dieses Vorurteils frägt:

„Suchen wir also in einer früheren Philosophie nicht die bloße Vorläuferin einer späteren, sondern die Funktion, die sie in ihrer Zeit erfüllt hat. […] Ihre Größe liegt in der Kraft, mit der sie die realen Bedingungen menschlichen Lebens analysierend durchdrangen. […] Die Frage, ob die ‚realen Lebensbedingungen‘ die ‚Basis‘ bilden und ob die Philosophie zum ‚Überbau‘ zählt, stellt sich hier nicht. Ich kenne nur geschichtliche Welten, in denen sich beides durchdrungen hat. Ich kenne aber viele schlecht-idealistische Geschichtsdeutungen, die dieses Durchdringen nicht erforschen, weil sie von der späten Idee der Autonomie der Kultur […] als von einer ewigen Wahrheit ausgehen.“

Der Terminologie „Basis“ und „Überbau“ kann man entnehmen, dass dieser Schlag der marxistischen Variante der hegelschen Geschichtsschreibung gilt: die Taktik besteht hier darin, die Annahmen der marxistischen Geschichtsschreibung als Idealisierung den konkreten Lebensbedingungen gegenüber- und dadurch als einengende, ungenügende und übervorteilende Abstraktion hinzustellen. Die Pointe ist an dieser Stelle, dass Flasch sozusagen die „Synthese“ hier für sich in Anspruch nimmt.

Flasch setzt sogar noch nach. So wie im Mittelalter philosophische Aussagen in theologischen Abhandlungen ihr Exil fanden, fänden sich heutzutage philosophische Aussagen eher in nicht-philosophischen Texten: „So wie heute philosophische Analysen in Büchern über die Farben oder über Richard Wagner, in Schriften zur Atombombe oder über die Psychoanalyse stehen – oft wichtigere als in den Werken der sog. ‚Fachphilosophie‘ –, […]“

Auch die Rezeption und Kanonbildung durch die Philosophiegeschichtsschreibung wird kritisiert: „Ihnen gefallen die Sieger, in unserem Fall: Augustin, nicht die Besiegten.“ Das ist umso problematischer, als in der Konzeption Flaschs sich die Positionen der „Sieger“ eben in der Auseinandersetzung mit den „Besiegten“ herausgebildet haben, und daher nur in diesem Zusammenhang verstanden werden können. Nach ihm verbindet der derzeitige Kanon beide Nachteile: die fehlende Reflexion von Konflikten bei gleichzeitiger – ebenfalls unreflektierter – Übernahme ihrer Resultate. Grandios ist auch ein weiterer Ansatz in Flaschs Polemik gegen die Kanonbildung, nämlich sein „Lob des mittelmäßigen Autors“:

„Man hat beim freien Lesen wie beim Studium der Philosophie gewöhnlich eine Vorstellung davon, wer die ‚Klassiker‘ und wer die ‚großen Philosophen‘ seien. Man denkt, die ‚besten‘ Autoren seien für einen selbst gerade gut genug. Wie die Liste der ‚Großen‘ zustande gekommen ist, fragt man nicht. Im selben Augenblick, da man sich den ‚großen‘ Überwindern der Vorurteile zugesellen will, verhält man sich konventionell.“

Dies zielt auf das Selbstverständnis der Leser philosophischer Texte ab. Die Entstehung des Kanons ist das eine, und zudem nach Flasch fragwürdig. Die unhinterfragte Rezeption das andere. Diese Kritiklosigkeit läuft eben diesem Selbstverständnis von kritischer Vernunft entgegen. Nachdem Flasch nun Angriffe gegen die hegelsche Geschichtsschreibung, die mangelhafte Anwendbarkeit philosophischer Erkenntnisse und die philosophische Fachliteratur geritten hat, bleibt ihm noch eine zu erstürmende Bastion: die Philosophie im Allgemeinen und als „Geisteswissenschaft“ im Besonderen:

„[…] ich wollte ihn [den Leser] einladen, über den Begriff ‚Philosophie‘ nachzudenken. Was ‚Philosophie‘ heißt, steht nicht überzeitlich fest. Es hängt ab von Traditionen, Sprachregelungen und Bedürfnissen, die alles andere als klar definiert sind. […] Genau genommen existierte sie [die Philosophie in der Spätantike und im Mittelalter] überhaupt nicht, und das hatte neben vielen Nachteilen auch den Vorzug: Die Philosophie sank nicht ab zur ‚Geisteswissenschaft‘.“

Er greift zu etwas, das zwar eine Tatsache, aber auch ein sehr geschickter Schachzug ist: die Erkenntnis, dass sich bei Auseinandersetzungen die Regeln selbst ändern lassen; in anderem Zusammenhang wurde dies „Spielstrategie“ getauft. Natürlich ist der Begriff „Philosophie“ das, zu dem man ihn macht. Die Frage ist nur, wer bzw. was die Deutungshoheit bzw. Definitionsmacht besitzt. Aber natürlich nimmt Flasch für sich in Anspruch, dies zumindest mit zu bestimmen.

Flasch versucht also seine zu Beginn des Buchs formulierte schwerwiegende These von der Immanenz der Kontroversen in der Philosophie durch Darstellung konkreter Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen „Philosophen“ zu illustrieren und in seinem Text selbst anzuwenden. Die im Vorwort postulierte These von philosophischen Aussagen als notwendigerweise polemisch kann er durch viele detaillierte und anschauliche Beispiele zwar nicht beweisen, aber seine These zumindest eindrucksvoll untermauern.

Ein Anfang ist gemacht – eine erste Schlacht erfolgreich geschlagen. Wir wünschen uns vom Autor eine Fortsetzung auf theoretischer Ebene, die seine These der Philosophie als Polemik beweist, seinem Gegner gleichsam nachsetzt, oder in den Worten von Clausewitz: „Aber für alle denkbaren Verhältnisse bleibt es wahr, daß ohne Verfolgen kein Sieg eine große Wirkung haben kann, und daß, wie kurz auch die Siegesbahn sein mag, sie immer über die ersten Schritte des Verfolgens hinausführen muß […]“. Leser, die diesen Artikel lasen, verfolgten auch alle weiteren Rezensionen dieses Autors.

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Das große Bücherfressen

Hektor Haarkötter
Der Bücherwurm.
Vergnügliches für den besonderen Leser
Primus Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010

In Bibliotheken ist schlimmer noch als seine Fraßtätigkeit die Verunreinigung durch Kot und bandförmige Spinnfäden, mit denen sich die Puppe umgibt.

Leider führt Hektor Haarkötter ausgerechnet dieses viel versprechende tertium comparationis zwischen tatsächlichem und metaphorischem Bücherwurm nicht aus. Dabei ist die Verdauungsmetapher im Zusammenhang mit der Produktion von Sekundärliteratur nicht neu. Das wohl prominenteste Beispiel findet sich in den Xenien von Goethe und Schiller und ist mit dem Titel Geschwindschreiber versehen:
Was sie gestern gelernt, das wollen sie heute schon lehren –/Ach, was haben die Herrn doch für ein kurzes Gedärm!
Nichtsdestotrotz sei weiterhin allen Bibliophilen ein guter Appetit und viel Freude beim Verunreinigen der Bibliotheken gewünscht!

// Sachbuchforschung

Angewandte Vernunft und Agon – Graciáns „Hand-Orakel“ und Schopenhauers Eristik

In seiner in Buchhändler heute erscheinenden Reihe „Große Denker im Literaturbetrieb“ stellte Michael Buchmann den Philosophen Arthur Schopenhauer als Erfinder eines einfachen Mechanismus der Literaturkritik vor. Ein gutes Buch benötige keine Werbung, also sei Werbung zugleich Kennzeichen schlechter Literatur. Hier nun geht es darum, welcher Mechanismus bei Schopenhauer dem Publizieren und welcher dem Nichtpublizieren zugrunde liegt. Dabei zeigt sich, dass das Nichtpublizieren eine Funktion des Publizierens ist. Ganz nebenbei wird von Michael Buchmann die für die Sachbuchforschung immer noch überraschende Aversion des Literaturbetriebs gegen Ratgeber hinsichtlich ihrer historischen Ursprünge bei Schopenhauer erklärt.

Am 15. Mai 1829 schrieb der bis dahin grandios erfolglose Arthur Schopenhauer an den Verleger Brockhaus: „Ewr Wohlgeborn nehme ich mir die Freiheit ein Manuskript zur Ansicht zu übersenden, welches ein sehr guter Buchhandels-Artikel werden kann. Da ich jedoch aus individuellen Gründen schlechterdings nicht als der Uebersetzer desselben gekannt seyn will; so erbitte ich mir vor Allem Ihr tiefstes Stillschweigen hierüber.“ Die Rede ist von Graciáns „Oraculo manual y arte de prudencia“ von 1647, das zu dieser Zeit in zwei Übersetzungen ins Deutsche vorlag, eine von 1686 und eine von 1711, beide dem Urteil Schopenhauers nach „sehr unvollkommen“ und „höchst elend“.

Die Darbietungsform von Würsten unterscheidet sich von der die Büchern gilt nur unwesentlich. Es muss alles passen und am Ende entscheidet der mitgegebene Senf.

Das „Hand-Orakel“ könnte man als durchaus gleichrangiges Werk in die Riege derer der „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“, wie Habermas sie nennt, nämlich Machiavelli, Hobbes und Mandeville einreihen. Das Handorakel beschreibt in Aphorismen, wie man seine Vernunft taktisch so einsetzen kann, damit es dem eigenen gesellschaftlichen Vorteil und Fortkommen dienlich ist. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es Schopenhauers Geistesaristokratismus und schonungsloser Sicht der Dinge entgegen kommt. Unabhängig davon, ob es tatsächlich individuelle Gründe waren, die ihn dazu bewogen, den Verleger um die in der Verlagsbranche im Umgang mit Manuskripten eigentlich selbstverständliche Diskretion zu bitten, hatte er jedenfalls gute Gründe, die sich direkt aus seinen philosophischen Aussagen und seiner Selbstdarstellung als Philosoph ableiten lassen; oder genauer ausgedrückt: die Weltsicht des „Hand-Orakels“ lässt sich mit der Schopenhauerschen recht gut in Einklang bringen, wohingegen einige seiner veröffentlichten (!) eigenen Aussagen und auch seine Selbstdarstellung dem Vorgehen des Graciánschen Textes widersprechen.

Man wird sich vor diesem Hintergrund nicht wundern, dass Schopenhauer zwar auch einen eigenen kleinen Text verfasst hat, der vor dem Hintergrund desselben agonalen Gesellschaftsbilds ebenfalls die moralfreie Anwendung einer Vernunfttätigkeit beschreibt, nämlich der Argumentation bzw. darüber hinaus der „Kunst, Recht zu behalten“, dass er diesen aber nicht veröffentlicht hat bzw. auch nicht veröffentlichen wollte. Die inhaltlichen Parallelen, die in der Beschreibung taktischer Kunstgriffe bestehen, sind verblüffend, wobei Schopenhauer neben Gracián auch häufig bei der „Topik“ und den „Sophistischen Widerlegungen“ von Aristoteles Anleihen gesucht hat. Hier einige Beispiele:

Am ersten Beispiel, dem argumentum ab utili, lässt sich auch gleich eine Relativierung der Vernunft ablesen, auf deren Wert man sich sonst gerne zur Legitimation beruft; die Vernunft ist nämlich handfesten Interessen unterlegen. Die jeweiligen Interessen des Antagonisten gilt es herauszufinden und wiederum für die eigenen dienstbar zu machen. Gracián beschreibt dies im § 26: „Man muß wissen, wo einem jeden beizukommen sei. Es gibt keinen Willen, der nicht einen eigentümlichen Hang hätte, […] Weiß man, welches für jeden der wirksame Anstoß sei, so ist es, als hätte man den Schlüssel zu seinem Willen.“ und nennt diese Technik liebevoll metaphorisch „Daumenschraube“. Damit übereinstimmend schreibt Schopenhauer in seinem Kunstgriff 35: „Der sobald er praktikabel ist, alle übrigen entbehrlich macht: statt durch Gründe auf den Intellekt, wirke man durch Motive auf den Willen […] denn meistens wiegt ein Lot Wille mehr als ein Zentner Einsicht und Überzeugung.“

Daneben gilt es, wie Gracián es gleich im Aphorismus § 3 bündig formuliert, „Über sein Vorhaben in Ungewissheit [zu] lassen.“ Denn, „mit offenen Karten [zu] spielen, [sei] weder nützlich noch angenehm“. Bei Schopenhauer liest es sich, auf die Argumentation übertragen, im Kunstgriff 4 folgendermaßen: „Wenn man einen Schluß machen will, so lasse man denselben nicht vorhersehn […]“ und noch weiter zurück bei Aristoteles: „Nützlich ist es auch, die Axiome, aus denen die Deduktionen gebildet werden, nicht im Zusammenhang zu erfassen, sondern abwechselnd eines für diese, eines für jene Konklusion; denn wenn die angemessenen [Prämissen] nebeneinander gestellt werden, ist eher offensichtlich, was sich aus ihnen ergeben wird.“

Hier liegt also wieder ein handfester Grund für die Bitte Schopenhauers um Verschweigung des Namens und die Nichtveröffentlichung seiner „Eristik“ vor, nämlich in der grundlegendsten aller Regeln, die vor der Anwendung aller anderen zu berücksichtigen ist, und die durch Platon zu ihrer frühen Perfektion innerhalb des philosophischen Diskurses gelangte und die Gracián erst im § 219 anspricht: „Man gelte nicht für einen Mann von Verstellung, obgleich sich’s ohne solche heutzutage nicht leben lässt.“

Um nach diesen beiden Gründen, nämlich einmal des Verschweigens zur Erhaltung der Wirksamkeit und einmal des Verschweigens zur Wahrung der eigenen Reputation wieder auf den zuvor angedeuteten zu sprechen zu kommen, sei der vermeintliche implizite Widerspruch angedeutet: argumentiert man schulisch, muss man insofern einen Widerspruch konstatieren, als das explizite Selbstverständnis Schopenhauers als Philosoph und Graciáns als Jesuiten sowohl der Anwendung der dargestellten Techniken als auch deren impliziten Prämissen der Unterlegenheit des Intellekts unter den Willen widerspricht; denn man stellt sich gerne als das Sprachrohr der Wahrheit dar, und einzig darin besteht auch die Legitimation. So schreibt beispielsweise Schopenhauer an Brockhaus, seinen eigenen Misserfolg zu rechtfertigen versuchend und gleichzeitig verächtlich distanzierend gegenüber erfolgreicheren Schriftstellern: „Mir ist hart mitgespielt weil ich die Wahrheit allein suchte, wo Andre unter dem Vorwand derselben ihren Unterhalt suchten und wohl wußten, daß meine Philosophie dem Publiko den Geschmack an der ihrigen benehmen muß. “

Argumentiert man allerdings unter der Voraussetzung der Richtigkeit bzw. besser gesagt der Wirksamkeit der dargestellten Taktiken, muss man konstatieren, dass es sich hier statt um einen Widerspruch um Taktik handelt, die durchaus auf ihre konkrete Intention auf Grundlage des eigenen Inhalts zurückgeführt werden kann. Doch dazu später.

Während das angewandte Wissen einerseits zu Gunsten des Wissens als Selbstzweck disqualifiziert wird, werden die Folgen dieses Verhaltens in § 232 mit wünschenswerter Deutlichkeit ausgesprochen: „Sehr weise Leute sind meistens leicht zu betrügen: denn obgleich sie das Außerordentliche wissen, so sind sie mit dem Alltäglichen des Lebens unbekannt, welches doch notwendiger [!] ist. […] Wozu dient das Wissen, wenn es nicht praktisch ist?“ Dass es davon Ausnahmen zu geben scheint, bestätigen eben diese, bezeichnenderweise als „dunkel“ titulierten sowie zur eigenen Entlastung oft und gerne gescholtenen oben angeführten Schriftsteller. Und sowohl Gracián als auch Schopenhauer schreiben mit ihren heimlichen Texten das, was heute – ebenfalls mit einem verächtlichen Unterton – als „Ratgeber“ bezeichnet wird.

Neben dieser Bevorzugung der Lebensbewältigung gegenüber dem Wissen als Selbstzweck gibt es noch eine weitere Prämisse: „Und doch hat noch keiner so viel gewußt, als er für sich brauchte […]“ Was sich im Konkreten übrigens darin widerspiegelt, dass man zwar diejenigen Ratgeber mit Verachtung und Häme überschüttet, die sich auf dasjenige Wissensgebiet beziehen, in dem man vermeintlich oder tatsächlich Spezialist ist, dass man aber gerne auf diejenigen Ratgeber zurück greift, die Hilfe auf einem gänzlich unvertrauten Gebiet versprechen. Während solche Ratgeber tatsächlich konkrete Hilfe versprechen und evtl. auch leisten, scheint sich Gracián in seiner Vorstellung von angewandter Bildung mehr auf die Erzeugung der Wirkung einer Scheingeläufigkeit zu beziehen. Er schreibt in § 22: „Gescheite Leute sind mit einer eleganten und geschmackvollen Belesenheit ausgerüstet, haben ein zeitgemäßes Wissen von allem, was an der Tagesordnung ist, […] sie halten sich einen geistreichen Vorrat witziger Reden und edler Taten, von welchem sie zu rechter Zeit Gebrauch zu machen verstehen.“ Als ob die These nicht provokant genug wäre, setzt Gracián mit der Behauptung, zuweilen sei das Nichtwissen bzw. das vorgebliche Nichtwissen besser als das Wissen im § 120 nach: „Sogar das Wissen muß nach der Mode sein, und da, wo es nicht Mode ist, besteht es gerade darin, daß man den Unwissenden spielt. […]“

Gerade durch diese Texte der „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ lässt sich feststellen, dass die „Gelehrten“ keineswegs zwangsläufig dem Zerrbild des lebensfremden Gelehrten entsprechen müssen, das sie wie in diesem Fall sogar selbst tradieren; zumindest entsprechen sie ihm nicht in ihren kleinen „geheimen“ Schriften. Vielmehr bedienen sie sich der Doppelstrategie verschiedener Diskurse: einem öffentlichen Diskurs einerseits, in dem man sich als interessenloser Wahrheitssucher stilisiert und auf alles offensichtlich zweckgebundene und angewandte Wissen verächtlich herab blicken kann; und andererseits einem Diskurs zwischen Eingeweihten und Geistesaristokraten, in dem man die Kunstgriffe ausspricht, die man ohnehin in mehr oder weniger großem Umfang selbst anwendet und die die Aussagen mindestens genauso bestimmen wie die vorgeblich reine Wahrheitssuche.

Baltasar Gracián
Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit. Aphorismen
S. Fischer 2008

Arthur Schopenhauer
Eristische Dialektik. Die Kunst, Recht zu behalten
Zweitausendeins 2009