// 2013

// Bücher

Ästhetik des Buches

Unter dem Reihentitel Ästhetik des Buches gibt Klaus Detjen im Wallstein Verlag Bücher zur Buchform und zur Form des Buches heraus.

Den Auftakt bildet Hans Andrees faszinierende Erläuterungen zu Schriftgeschichte, gefolgt von Günter Karl Boses kurzen papier- und buchgeschichtlichen Überblick. Abschließend für dieses Jahr schreibt Gerd Fleischmann über den Typografen Jan Tschichold. Die Reihe wird fortgesetzt mit Büchern von Roland Reuß und Walter Pamminger.

Hans Andree
normal regular book roman
Ein Beitrag zur Schrift- und Typografiegeschichte
Wallstein 2013

Günter Karl Bose
Das Ende einer Last
Die Befreiung von den Büchern
Wallstein 2013

Gerd Fleischmann
Tschichold – na und?
Wallstein 2013

// Bücher

Die Verrohung der Welt


Ab 1929 wurden von den sowjetischen Machthabern Russlands im Komi-Gebiet weit im Norden eine Fülle von Lagern errichtet. Ein Gebiet, das in der Zarenzeit als unbesiedelbar galt – selbst für Verbannte. Stalin und die für die Lager zuständigen Geheimdienstchefs Jagoda, Jeschow und Berija sahen das anders. Verwaltungszentrum wurde das Lager Workuta.

Den kürzesten Bericht liefert Horst Bienek, aus dessen Nachlass ihn Michael Krüger herausgegeben hat. Ein Gedächtnisprotokoll, eher widerwillig entstanden. Bienek schreibt: „Ich habe in vielen Städten, auch im Ausland, aus der ‚Zelle‘ gelesen, und die Zuhörer sagten manchmal, wie schrecklich (…). Aber nach Workuta hat bisher keiner gefragt.“

Auf dem Weg von Moskau nach Workuta liegt der Ort Petschora. Dort ist Lew Mischtschenko interniert. Als Heimkehrer aus dem großen vaterländischen Krieg gegen Nazideutschland wird er, wie alle anderen Kriegsgefangene aus Deutschland auch, sofort verhaftet und zu einer jahrzehntelangen Freiheitsstrafe wegen Spionage verurteilt. Entgegen allen Vorschriften des Gulag gelingt es ihm und seiner Frau Swetlana weit über tausend Briefe auszutauschen.

Figes, der das Konvolut der Briefe entdeckt hat, erkennt sofort, dass sich in Lews Briefen ein einzigartiges zeitgenössisches Protokoll des Lagerlebens verbirgt. Zum Glück aber lässt der Historiker dem Romancier Figes genügend Platz für einen Brief-Roman.

Erwin Jöris Weg ist ein Weg durch das „Zeitalter der Extreme“, das sich durch die Herrschaft der Verbrecher auszeichnet. Denn Workuta wie Peschora, wie alle anderen Lager werden von Verbrechern, von Mördern, Dieben, Schlägern regiert – Bladnois wie man sie auf Russisch nannte. Eine Verrohung der Welt.

Andreas Petersen hat das Leben von Erwin Jöris aufgeschrieben, erläutert und kommentiert und daraus einen großen Lebensbericht werden lassen. Er reicht von den Straßenschlachten der Republik, dem Leben als Häftling in deutschen Lagern, von der Zeit der russischen Industrialisierung und des Terrors, von der Zeit als Soldat der Wehrmacht, in russischer Kriegsgefangenschaft, in der frühen DDR, um dann schließlich, verurteilt zu fünfundzwanzig Jahren Haft, nach Workuta verschleppt zu werden. Ein Leben im Mahlwerk der Regime.

Alle drei, Horst Bienek, Lew Mischtschenko und Erwin Jöris sind Überlebende, die der Verrohnung der Welt etwas entgegen zu halten haben: ihre Erinnerung.

Horst Bienek
Workuta
Wallstein 2013

Orlando Figes
Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne
Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors
Hanser Berlin 2012

Erwin Jöris, Andreas Petersen
Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren
Ein Jahrhundertdiktat
Marix 2012

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Im Wartehäuschen der Gegenwärtigkeit

Loel Zwecker
Ein Schritt zurück in die Zukunft
Was wir aus der Geschichte lernen können
Pantheon 2013

Die Rede davon, dass man die Menschen, seien es nun Schüler oder erwachsene Zeitgenossen, immer abholen müsse, wo sie gerade herumstehen, ist eine beliebte logistische Metapher für didaktische Methoden. Manchmal drängt sich allerdings auch der Eindruck auf, dass es sich einige im Wartehäuschen ihrer Gegenwartsbezogenheit gemütlich gemacht haben und von Linien, und seien es auch nur die Buslinien des historischen Sachbuchs, nichts wissen wollen.

Ihre Werte, ihre Einstellungen, ihre Gesinnungen sind ihnen wichtig, die Bedingungen ihrer Entstehung zeigte ihnen aber, dass sie entstanden sind und daher auch vergehen können. Wer nicht einsteigt, kann daher um so unnachgiebiger auf seine moralischen Ansprüche, seine Ansprüche überhaupt pochen. Da stehen sie in ihrem ewigen Jetzt, weigern sich einzusteigen, und bemessen alles nach den Ausmaßen ihres Wartehäuschens, ihrer Werte und ihrer heute gefassten Einstellungen.

Davon einmal wegzukommen, lädt Loel Zwecker sie ein. In seiner Weltgeschichte Was bisher geschah von 2010 hat er einen ersten Versuch im Genre des populären historischen Sachbuchs unternommen. Hier nun hält der Bus zum zweiten Mal und lässt seine Leser zusteigen.

Loel Zwecker schreibt Geschichte aus der Perspektive seiner Leser, die in Partnerschaften leben, die zur Arbeit gehen, Steuern zahlen, Kinder erziehen und Sport treiben und sich dann fragen, wie es dazu kam, ob das immer schon so war, wie es ist, und ob es so bleiben muss. Das gelingt ihm auf eine ebenso grundsolide wie unterhaltsame Art und Weise. Sein historischer Tiefblick lehrt alle, die sich auf ihre Gegenwärtigkeit etwas zu Gute halten, diese neu sehen.