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Brief an den Heimatminister

Kathrin Gerlof
Nenn mich November
Roman
Aufbau 2018

Das Land war einmal der zurückgebliebene Raum. Nun ist es der Raum, der industriell vollkommen erschlossen ist. Ein Raum, aus dem die Natur, die Tiere vor allem, in die Stadt ausweichen, weil nichts als Mais angebaut wird, für die Biogasanlagen von Kramer. Kramer ist der eine Großbauer, der andere ist Schulz. Was Marthe nur fehlt, ist das Internet. Dafür muss man auf eine Anhöhe in der Nähe.

Marthe und David Lindenblatt sind in der Stadt gescheitert und ziehen in ein Dorf von siebzig Seelen, in das alte Schusterhaus, das ihnen Tante Wally hinterlassen hat. Gescheitert sind sie an der bloß verbalen Aufgeschlossenheit der Städter für ökologisches Handeln. Auf sie bezogen haben sie ihr Geld in biologisch abbaubares Einweggeschirr investiert – mit der städtischen Verhaltensstarre nicht rechnend, die sie auf dem produzierten Geschirr sitzen bleiben lässt.

Das Leben ist einfacher, als die meisten glauben. Wenn man Grundsätze hat. Marthe weiß es. Sie hat. Ich habe nicht umsonst einen ganzen Tag damit zugebracht. Wann war das? Vor zwei Jahren.

Da kamen sie und ihr Mann auf die Idee, kompostierbares Wegwerfgeschirr zu produzieren. Kathrin Gerlof wechselt die Fokalisierung der Erzählung mitten im Satz. Ein Stilmittel, das den Perspektivwechsel deutlich markiert. Und statt Marthe hören wir dann von der Frau, die sich November nennt. Wir wechseln von der Stadt aufs Land, von Marthe zu November.

Marthe, die fahrig redende Städterin, erinnert die Dörfler an einen Mann, der eine Bibliothek besaß. Ein Studierter, wie es dann weiter heißt, der tatsächlich im Dorf geblieben war und Woche für Woche an die Universität der Bezirksstadt fuhr. Ein Germanistikprofessor, dem die meisten mit einer Mischung aus Skepsis, Unverständnis und jener Arroganz der werktätigen Bevölkerung begegneten, wie sie dieser kleine Staat gezüchtet hatte.

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Familienaufstellung mit Todesfolge

Vivek Shanbhag
Ghachar Ghochar
Roman
Aufbau 2018

Familien haben ihre eigene Sprache und ihr eigenes Schweigen. Über ein Band, das sich verheddert hat, sagt Anita, die junge Braut des Erzählers, es sei ghachar ghochar. Am nächsten Tag greift er das auf: Sie hatte mir diese geheimen Worte, die in keiner Sprache existierten, anvertraut, und ich war jetzt einer der einzigen fünf Menschen in der Welt, die wussten, was sie bedeuten.

Es sind Gewohnheiten und Begriffe, um die herum sich eine Familie ordnet. Chikkappa, der Ernährer der Familie, greift später im Roman die Spitznamen auf, die er sich für jedes Familienmitglied ausgedacht hat. Die junge Braut ist verreist. Das lockerte, wie der Erzähler mitteilt, die Knoten in uns auf, die sich über die Jahre immer fester gezogen hatten.

In einem Café reflektiert und erzählt der junge Mann über die Ordnung, die sich seine Familie gegeben hat und die seine junge Braut nicht einfach akzeptiert. Er einnert sich der Ereignisse in der Familie, der Heirat, die kleinen Streitereien und den großen wirtschaftlichen Erfolg der Familie, der vor allem Chikkappa zu verdanken ist.

Scheherazade erzählte um zu leben. Dieser Erzähler erzählt geduldig und gelassen, warum seine Braut vermutlich nicht zurückkehren wird, warum sie vielleicht sterben wird, warum in der Familie darüber kein Wort verloren wird. Und wir erschrecken, wir sind die Komplizen.

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Die Frau in der Gesellschaft

Christine von Brühl
Gerade dadurch sind sie mir lieb.
Theodor Fontane und die Frauen
Aufbau 2018

Zur Zeit von Theodor Fontane sind Frauen als Autorinnen noch die Ausnahme. Jeder Name, der nun trotzdem einfällt, ist im Vergleich zur Regel fast ein Einzelfall.

Um durchzudringen, schreiben Frauen wie beispielsweise George Elliot unter einem männlichen Vornamen und noch Anna Seghers verschickte ihr später preisgekröntes Erstlingswerk Aufstand der Fischer von St. Barbara an Kiepenheuer und Witsch unter dem Namen Seghers. Zur Zeit Fontanes schrieben Frauen vor allem zunächst Biografien. Ein Genre, das man ihnen in gewisser Weise zubilligte.

Für seine Tochter, die begabte Martha Fontane, öffnet sich hier keine Türe. Fontane versuchte, schreibt Christine von Brühl, seine Tochter zu protegieren. Eine Novelle, die verloren ging, schickte an den Herausgeber der Frauen-Zeitung. 1917 stürtzte sich Martha Fontane aus dem Fenster.

In einem Nachruf steht: Sie war sein Lieblingskind, dem er durch die Gestalt der Corinna in ‚Frau Jenny Treibel‘ ein dauerndes Denkmal gesetzt hat. Sein Lieblingskind, weil sie, ihre Brüder an Bedeutung überragend, dem Vater das geistig am meisten ebenbürtige Kind war. Christine von Brühl nimmt an, dass der Nachruf von Marthas Bruder Theo Fontane geschrieben wurde.