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Kaltblütig

Olivier Guez
Das Verschwinden des Josef Mengele
Roman
Aufbau 2018

Auf die besondere Form dieses Buches, das zwar ein Roman ist, aber gleichsam an sich hält, hat schon Frédéric Beigbeder hingewiesen. Denn Guez widmet Mengeles Perspektive auf die Welt der bundesrepublikanischen und der südamerikanischen 1950er Jahre nicht die poetische Kraft des Romans. Genau in dieser Hinsicht findet keine Aufwertung statt, bleibt das Buch kühl, knapp und sachlich, fast ein Sachbuch.

Die bedeutende Vorläufer ist Truman Capotes „Kaltblütig“ von 1965. Hier wie dort wird ein Blick in den Abgrund riskiert, der dokumentarische Genauigkeit und literarische Wucht vereint.

Dass man Josef Mengele nie fasste, hat etwas mit der gleichgültigen Bundesrepublik zu tun, die in Höfen die Landmaschinen ‚Mengele‘ stehen hatte, deren weltweiter Verkauf zugleich den Sohn finanzierte. Auch erfährt man, dass die mit Josef Mengeles Ergreifen befassten Institutionen, der Mossad, Nazi-Jäger Simon Wiesenthal und der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, über den Guez das Drehbuch zu „Der Staat gegen Fritz Bauer“ geschrieben hat, ihr Ziel aus zahlreichen Gründen geradezu aus den Augen verloren.

Das Verschwinden des Josef Mengele hat aber auch, und das zeigt dieses Portrait eindrücklich, etwas zu tun mit Mengele selbst, seiner fanatischen Akribie und fast schon physisch spürbaren Angst vor dem Gefasstwerden.

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Stellen von Nichts

Gianna Molinari
Hier ist noch alles möglich
Roman
Aufbau 2018

Eine Verpackungsfabrik, die fast schon abgewickelt ist. Innen wird sie mittels Überwachungskameras bewacht. Draußen ein Wolf am löchrigen Werkszaun. Stellen von Nichts überall, bei der Verpackung, im Zaun, im Bild der Kamera. Nichts erscheint. Arbeiten wir nicht alle in einer Verpackungsfabrik in der Abwicklung, in der der Chef, der uns eingestellt hat, den Eindruck vermittelt, er könne nicht von ihr lassen. Die literarische Parabel unseres Lebens.

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Erleben und verstehen

Daniel Höra
Was wir nicht wollten
Roman
Ueberreuter 2018

In ihrem Gartenprojekt in der reichlich herunter gekommenen Siedlung gehen die Freunde richtig auf. Wie unter Anleitung eines nicht existierenden Sozialprojektleiters findet jeder der fünf, Koko, Betty, Tomi, Scholle und der Erzähler einen Platz in der Gruppe und im Garten.

Gemeinsam bauen sie etwas auf. Bis ein Bagger alles platt macht. Ihre harmlos geplante Rache wächst ihnen über den Kopf, auch weil Heiner plötzlich auftaucht, der immer wieder einmal Nietzsche, den Verführer zur Verachtung, zitiert.

Wie ein Gegengift, ein analytisches allerdings, erläutert der dreizehnjährige Erzähler die Geschichte immer wieder aus dem Fundus der Erkenntnisse der Anthropologin Katje van Ripwinkel, deren Buch über Gruppenverhalten er gelesen hat. Ein seltenes und wunderbares Beispiel für ein Jugendbuch, das die Leistungsfähigkeit von Wissen in Situationen zeigt, die uns überfordern.

Und noch viel mehr, Höra zeigt, dass Lektüren einen Fundus an Erklärungen bereitstellen, die wir erst im Augenblick des Erlebens heranziehen. Hier erklären Texte nicht allein das Erlebte, sondern auch das Erlebte den Text.

Ripwinkel hatte den Jagdinstinkt mal als ‚Befreiung vom Denken‘ bezeichnet. Das hatte ich nie verstanden. Bis eben. Statt dem Kult des bloßen Erlebens zu frönen, durch das sich dann irgendwie alles von selbst versteht, zeigt Höra seinen Helden beim Versuch, die Ereignisse intellektuell zu verarbeiten. Ein grandioses Buch.