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Die revolutionäre Tat

28011800_9783351036744_xlArtjom Wesjoly
Blut und Feuer
Roman
Aufbau 2017

Bei einem Halt lässt Maxim Kushel, ein Soldat, der sich auf der chaotischen und gefährlichen Rückreise von der Front befindet, einen jungen Harmonikaspieler in den Waggon einsteigen. Von ihm erfahren die Soldaten von Lenin: Genosse Lenin hat direkt gesagt: Raubt das Geraubte, jagt die Haie der bürgerlichen Klasse ins Grab.

Wesloys Prosa ist expressionistisch. Abgerissene Sätze, Sprachfetzen fliegen durch die Luft, in Zeiten des Bürgerkriegs sind sie gefährlich wie eine Gewehrkugel. Ganze Szenen bestehen nur aus zynischen Kommentaren und volkstümliche Wortwitzen der Protagonisten: des revolutionären Volkes. Ein Buch wie die revolutionäre Tat selbst.

Blut und Feuer erschien in Russland 1932 und 1936 in unterschiedlichen Fassungen. Der Stalinismus machte es kaum möglich, die russische Revolution resümierend und zusammenfassend darzustellen. Zu oft wechselten die Interessen, die Perspektiven auf das Ereignis, zu oft veränderten sich die Koordinaten des Staates, seiner Führer und der Tscheka, zu oft verschwanden wichtige Protagonisten der Revolution in die Lager.

Thomas Reschkes Übersetzung folgt der letzten noch vom Autor selbst betreuten Version. Im Jahr darauf wurde Wesjoly verhaftet und 1938 hingerichtet. 1958, in den Zeiten des Tauwetters, erschien der Roman erneut, allerdings auch nur um den Preis weiterer Streichungen.

Artjom Wesjoly, der in diesem Roman nichts weniger als die letztgültige Darstellung der russischen Revolution versucht, ist immer ganz nah an der Basis der revolutionären Bewegung, dem Volk, dort wo ihre Führer die Entstehung der revolutionären Wahrheit als Tat vermuteten. Dass die revolutionäre Tat das Töten ist, das zum Schweigen bringen mithin, zeigt sich hier auch – vermutlich gegen die Überzeugung des Autors.

Die Geschichte des Bauern und Soldaten Maxim Kushel und des verwegenen Partisanen Tschernojarow stehen nicht im Mittelpunkt. Wie die manchmal nur in Satzfetzen sich vorwärtsbewegende Prosa ist auch die Handlung zerschlagen und zerrissen, ist die Revolution noch in Bewegung und für den Autor unabschließbar. Eine Handlung, die in den letzten Worten des Romans kein Ende findet: Heimatland … Rauch, Feuer – kein Ende.

Hinweis zum Leseabend Oktober 17.

 

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In einer kleinen erfundenen Geschichte

Catherine Lacey
Niemand verschwindet einfach so
Roman
Aufbau 2017

Elyria schreibt Soaps fürs Fernsehen. Sie wohnt mit ihrem Mann Charles Riley, einem Assistenzprofessor für Mathematik, an der Upper West Side von Manhattan. Dann bricht sie plötzlich nach Neuseeland auf und trampt durch das Land. Im Roman wird ihr gesagt:

Sie können sich vorstellen, dass andere Leute sich womöglich wundern und nicht verstehen, warum Sie beschlossen haben, einfach Ihre Sachen zu packen und zu gehen, ohne wenigstens Ihrem Mann zu sagen, wohin Sie wollten.

Es scheint ihr aber unmöglich, sich so verständlich zu machen wie es andere erwarten dürfen. Sie nennt ihre Beweggründe ein wildes Biest. Man soll sein wildes Biest, schreibt sie, nie provozieren oder ihm zuwiderhandeln, deshalb ging ich fort, und so lag es wohl an ihm, dass ich nicht richtig tickte, aber inwiefern es selbst nicht richtig tickte, war mir nicht ganz klar.

An einer Stelle im Roman liest Elyria das Buch von Evan S. Connell Fabelhafte Mrs. Bridge (Link zur Besprechung), das 1959 zuerst erschien. Elyria ist eine Tochter dieser Mrs. Bridge, über die es gleich im ersten Satz des Romans heißt: Ihr Vorname war India – sie konnte sich nie daran gewöhnen. Mrs. Bridge bleibt in ihrem entfremdeten Leben gefangen.

Elyria Riley muss aber feststellen, dass das entfremdete Leben vermutlich nicht auf etwas zurückzuführen ist, das sich Mrs. Bridge vielleicht nicht zutraut, dem sie in gewisser Weise ihr Leben lang ausweicht. Im Unterschied zu Mrs. Bridge tritt Elyria Riley aus ihrem Leben heraus, verschwindet und wird zur Beobachterin des Lebens selbst:

Den nächsten erinnernswerten Teil meines Lebens verbrachte ich damit, zu beobachten, wie die leicht wellige Oberfläche meines Kaffees zitterte, und mir wurde immer intensiver bewusst, dass jeder auf diesem Planeten die ganze Zeit ein klein wenig zittert. (…) Wir bemerken all dieses Zittern gar nicht, bis ein Moment kommt, in dem wir es plötzlich doch bemerken, und die meisten Menschen sind in der Lage, es für eine Weile zu vergessen, bis sie es wieder bemerken, aber ich kann nicht aufhören zu sehen, wie die Erde und alles, was sich darauf befindet, unablässig zittert.

Ihr Ziel ist unbestimmt und mehr oder weniger zufällig gewählt. Aus der Konvention des gegenseitigen sich Anlügens – aus Mrs. Bridge wird zitiert, wie Mrs. Bridge einen Selbstmord als einem Unfall erzählt – kommt auch Elyria Riley nicht heraus:

Und ich wusste, dass ich log, aber dieser Jemand schien es nicht zu wissen, es sei denn, er wusste mittlerweile genug über mich, um zu wissen, wann ich log, und wenn dieser Jemand das wusste, dann log er mich nun seinerseits an, indem er sagte, mach’s gut, und das war nett von ihm, uns weiter in einer kleinen erfundenen Geschichte leben zu lassen; manchmal denke ich, dass ich davon nicht genug im Leben bekomme, aber dann wieder scheint mir, ich bekomme mehr davon, als mir zusteht.

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Das Geheimnis von Odessa

28011767_9783746632285_xlVladmir Jabotinsky
Die Fünf
Roman
atb 2017

Der eigentliche Held dieses Romans ist die Stadt Odessa. Vladimir Jabotinsky schreibt über seine Begegnungen mit den Mitgliedern der Familie Milgrom, den fünf Kindern Marussja, Marko, Lika, Serjosha und Torik. Seine zufälligen Begegnungen und wieder auftauchenden Erinnerungen, die Jabotinsky gleich vorweg als trügerisch charakterisiert, fügen sich in das Straßenbild des alten und vergangenen Odessa vor der Oktoberrevolution.

Zehn Volksstämme nebeneinander, schreibt Jabotinsky, einer so pittoresk wie der andere, einer kurioser als der andere. Anfangs lachten sie übereinander, dann lernten sie, auch über sich selbst zu lachen und über alles auf der Welt, sogar über das, was wehtat, sogar über das, was sie liebten. Allmählich schliffen sie ihre Bräuche aneinander ab, lernten, ihre eigenen Altäre nicht mehr übermäßig ernst zu nehmen, und ergründeten allmählich ein wichtiges Geheimnis dieser Welt: Das eigene Heiligtum ist für den Nachbarn nichts, und schließlich ist dein Nachbar auch kein Dieb und kein Landstreicher; vielleicht hat er ja auch recht, vielleicht auch nicht – kein Grund, sich zu grämen.

Odessa, gegründet von Katharina der Großen, war von Anfang an eine modere Stadt, die viele Besucher an das zeitungssüchtige Völkergemisch amerikanischer Städte erinnerte. Aus ihr gingen Alexander Puschkin, Nicolai Gogol und Isaak Babel hervor. In ihr stand der Panzerkreuzer Potjomkin, auf dem 1905 die Matrosen meuterten. Jabotinsky schreibt über diesen Tag:

Wir hatten ihn andächtig begrüßt, gehofft, es werde der Tag der Tage werden, der Beginn langersehnter Ereignisse. Historisch betrachtet stimmte das vielleicht sogar; aber jung, dumm und unerfahren, wie wir waren, ahnten wir nicht, dass sein Choral, der mit einem Glockengeläut begonnen hatte, schon an diesem Abend in sinnloses Kneipengeheul umschlagen würde.