// 2009

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Anderssein als Stil


Kerstin Decker
Mein Herz – Niemandem. Das Leben der Else Lasker-Schüler
Propyläen 2009

Kerstin Decker ist eine erfahrene Biografin. Was ihr aber mit diesem Buch gelungen ist, geht über das was man Biografie zu nennen gewohnt ist weit hinaus. Alle stilistischen Merkmale dieses Buches, die Zeitform, die kurzen Sätze, die insgesamt wie gesprochen wirkende Erzählung, alles dies ist bewusst gewählt. Zugleich reflektiert Kerstin Decker wie sie im Unterschied zur gängigen biografischen Form bei Else Lasker-Schüler von deren Formeln und Konventionen abweichen muss: „Wenn Kindheitskapitel in Büchern enden, dann wissen Leser und Autor: Hier ist etwas abgeschlossen, die Vorgeschichte eines Menschen. Von jetzt an übernimmt er sich selbst oder, weniger euphorisch gesagt, das Leben übernimmt ihn. Hier ist das anders.“ Das Anderssein der Lasker-Schüler so geschmeidig, so bewusst, so unterhaltsam und souverän in die Struktur und den Stil ihrer Biografie umzuwandeln, macht dieses Buch so bedeutend und den Lesern nichts weniger pure Freude.

Nachbemerkung: In der FAZ vom 4.3.10 schreibt Beate Tröger in ihrer Rezension über Kerstin Deckers Buch: „Anstelle einer sachlichen Lebensbeschreibung (…) versucht sich Kerstin Decker an einer identifikatorischen, undistanzierten Romanbiographie, die einer verwässerten philosophischen Terminologie Vorrang gegenüber der literaturwissenschaftlichen gibt.“ Kerstin Decker wusste wohl nicht, dass der sachlich-literaturwissenschaftliche Zugang zwingend vorgeschrieben ist.

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Finde ich das Glück beziehungsweise?

Es ist Samstag Abend, Köln Hauptbahnhof, zwar ist nicht Karneval, aber trotzdem sieht man mehrere Gruppen verkleideter Menschen durch den Bahnhof streunen. Meistens alle im gleichen T-Shirt. Oft mit einem Foto bedruckt und einen schwachsinnigen Spruch wie „Guidos letzter Tag in Freiheit“. Was Guido droht ist nicht Haft, sondern die Ehe. Es ist ein Junggesellenabschied. Vielleicht begann auch diese Beziehungsgeschichte von Guido bei neu.de oder Facebook. Nun, Guido ist entschieden und löst das Dilemma des Sokrates – „Heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen“ – durch eine Entscheidung.

Findet mich das Glück? Und passen wir überhaupt zusammen?

Für Frauen bleibt mit der Heirat allerdings die Frage der Fragen für die Suche nach dem perfekten Leben ungelöst: Wann werde ich schwanger? Dann aber noch: Werde ich überhaupt Kinder bekommen können? Gegenüber einem männlichen Dilemma sind die Möglichkeiten der Selbstfrustration unter Frauen doch erheblich vielgestaltiger. Und sie werden, wenn man Florentine Fritzen glauben darf, fast alle genutzt.

Ein Mann lebt seit drei Jahren mit einer Frau zusammen. Sie haben sich tatsächlich über eine Internetseite kennen gelernt. Irgendwann fällt der Frau ein, dass noch ihr Profil im Internet steht, mit dem sie sich auf Partnersuche begeben hat. Mit Fotos. Reisebilder aus Vietnam. Jetzt hat sie das Gefühl, dass zwischen den Bildern und ihr ein ungeheurer Abstand herrscht. Sie sucht nach seinem Profil und findet es mit einem kleinen blinkenden Sendemast! Als er nach Hause kommt, sagt sie: „Du hast weiter gesucht.“ Er leugnet nicht, behauptet aber, sich nie mit jemanden verabredet zu haben. Die Nachrichten, die er erhielt, habe er nie beantwortet. „Du warst die ganze Zeit über an einem anderen Ort“, sagt sie, „in einer anderen Zeit. Ich bin ein Versuch für dich gewesen, nicht einmal das, ein Provisorium. Du hast dich in meiner Liebe, in unserem Leben aufgehalten wie in einem Wartezimmer.“

Ist es tatsächlich so, wie Mark Zuckerberg, der Gründer von facebook, irgendwo behauptet, dass sich die sozialen Gewohnheiten dem anpassen, was technologisch möglich ist? Werden uns Castingshows, twitter, StudiVZ und facebook so verändern, dass jegliches Schamgefühl verloren geht. So warnt jedenfalls Simons uns, aber besteht diese Gefahr wirklich? Oder drückt sich darin nur Gefühlskultur der Mittelschicht aus, mit ihrer eindringlicher Selbstprüfung und Reflexivität. Soziale Stellung und Seelenhaushalt entsprechen einander und Gefühle werden zu sozialen Ressourcen konvertiert. Zum Beispiel zu der, anders zu sein, ein Buch, wie das von Simons geschrieben zu haben. „Das Gesindel lebt sich aus und wir entbehren“, schreibt Sigmund Freud in einem Brautbrief.

Mit John Stuart Mill kann man diese Beispiele so kommentieren: „Lieber ein unglücklicher Sokrates als ein glückliches Schwein“. Bei Guido – Sie erinnern sich, der vom Bahnhof – wird aus der Episode eine Erzählung, bei der der Junggesellenabschied von untergeordneter Bedeutung sein wird. Das geschmacklose T-Shirt endet vermutlich als Polierlappen der Chromteile seines Motorrads. Bei dem zweiten Beispiel von Hillenkamp gelingt die gemeinsame Geschichte nur scheinbar, denn er sucht die alte Intensität für seine Affekte und Begierden zu erhalten. Zu Recht vielleicht, denn schließlich leben wir ja in Zeiten, in denen die Selbsterhaltung relativ gesichert ist. Hampe schreibt: „Menschen möchten in einzelnen Lebenssituationen möglichst intensive positive Gefühle empfinden, aber sie wollen auch, dass ihr Leben einen Zusammenhang ergibt, den man wie eine gut erzählte Geschichte nachvollziehen kann, und es nicht einfach in einzelne Episoden zerfällt.“ Dieses Verhalten ist nicht ganz so neu.

Im ersten Akt von Don Giovanni prahlt Leporello, sein Herr habe allein in Spanien über 1000 Frauen verführt und sagt, damit es glaubwürdiger wirkt die genaue Zahl: 1003. Das ist ein nur mittelmäßiger Durchschnitt meinen die Ornithologen. Verteilt man Don Giovannis Aktivität auf dreissig Jahre, verführte er nur alle elf Tage eine Frau. Da sind die Trauerschnäpper mit ihrer Praxis der APK, der „Außer-Paar-Kopulation“ effektiver. Die Männchen verlassen kurzfristig die Beziehung und machen durchschnittlich alle 25 Minuten den Versuch einer APK, aber alle elf Minuten schleicht sich ein anderes Männchen mit der gleichen Absicht in ihr Revier. So ist fast jeder vierte Trauerschnäpper illegitim.

Die Episodenhaftigkeit der Beziehungen, die Jared Diamond bei den Trauerschnäppern darstellt, die Hillenkamp konstatiert und Simons beklagt, hat ja unter Umständen auch etwas für sich. Michael Hampe schreibt: „Die Fähigkeit zu beobachten, die ganze Aufmerksamkeit auf das, was gerade geschieht, richten zu können, ohne es als etwas zu nehmen, das für anderes als es selbst steht, diese Beobachtungsfähigkeit ist die Grundlage für eine Lebenseinstellung, die zu einem glücklichen Leben führt.“ Kann sein, dass diese Einsicht dann an Boden verliert, wenn man auf dem Beziehungsmarkt zunehmend erfolgloser wird. Die Zuschreibung der Verantwortung für seine Form und sein Aussehen, trägt man mit zunehmenden Alter immer schwerer. Kann sein, dass Guido froh ist, auf diese Weise vom Markt genommen zu werden. Der Merksatz für diejenigen, die nicht Guidos Schicksal haben, lautet: Ihr sollt nicht leben, sondern euer Leben einteilen und zwar, meint Sloterdijk als Überbietungsdenker, in Trainingseinheiten. Das Ich ist ein Projekt und der jeweilige Ichinhaber ist Abend für Abend sein Unternehmer. Die Fälle von Selbstkonkursverwaltung nehmen allerdings zu.

Jared Diamond
Warum macht Sex Spaß?
S. Fischer 2009

Florentine Fritzen
Plus minus 30
Artemis & Winkler 2009

Michael Hampe
Das vollkommene Leben
Hanser 2009

Sven Hillenkamp
Das Ende der Liebe
Klett Cotta 2009

Martin Simons
Vom Zauber des Privaten
Campus 2009

Peter Sloterdijk
Du mußt dein Leben ändern
Suhrkamp 2009

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Das Führerprinzip und die Laisierung der natürlichen Experten

Miriam Gebhardt
Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen
Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert
DVA 2009

Wenngleich der globale Untertitel dem Buch nicht gerecht wird, ist es doch ein herrliches Gegengift. Wodurch? Durch die Geschichte. Wenn die Geschichte der Erziehung als die Geschichte der Kinder als Tyrannen erzählt wird, dann ist die relativierende Wirkung auf feste Überzeugungen enorm, denn Geschichte impliziert Veränderung. Als kulturelle Konstruktion kann aber eine Wesensbestimmung des Kindes als kleiner Tyrann nicht aufrecht erhalten werden. Wer das Erfolgsbuch von Michael Winterhoff getitelt hat, kennt vielleicht auch diese alte Konstruktion und ihre Bedeutung für die Geschichte der Erziehung in Deutschland. Was Winterhoff dann jedoch schreibt und zwar über die Erziehungskompetenz der Eltern, verschwindet hinter diesem Bild vom Kind als ugly doll fast vollständig.

Ratgeber leben immer schon auch ein wenig vom Defizit beim Leser, vom Defizit an Geschichte einerseits und an Informationen andererseits. Wenn das nicht reicht, werden die Defizite von den Experten eben massiv herbeigeredet. Nachzulesen in Johanna Haarers Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind von 1934, einem Buch wie ein Polizeigriff. Nicht nur wird der intutive Zugang der Eltern zum Kind durch die Behauptung der prinzipiellen Hilflosigkeit der Eltern geleugnet. Auch die Erfahrungen der
Großeltern werden von den Expertinnen wie Hildegard Hetzter und Johanna Haarer zur Gefahr für die Erziehung des Kindes erklärt. Diese damaligen Großeltern sind allerdings weitaus weniger Opfer der schwarzen Pädagogik, als angenommen. Woher Miriam Gebhardt das weiß? Sie zieht in großem Umfang Tagebücher heran, die Eltern für und über ihre Kinder geschrieben haben. Auch dies eine neue und erfolgreiche Version der oral history oder die Installierung von Kempowskis Echolot im Kinderzimmer. Zur Paradoxie des Tyrannen in Windeln, den es um jeden Preis zu verhindern galt, und dem an der Wand im Wohnzimmer und Amtsstuben, der sich bis in die Kinder-Tagebücher verfolgen lässt, findet man bei Miriam Gebhardt allerdings nichts.

Bis in einzele Äußerungen lässt Miriam Gebhardt erkennen, wie sehr die Expertenempfehlung, sich zum Kind in aseptischer Distanz zu halten, sich vor die unmittelbare Wahrnehmung der Eltern schiebt und der erste Impuls, das Kind aufzunehmen, unterdrückt wird. Dabei bleibt sie aber nicht stehen, sondern konstatiert eine komplexe Entwicklung: „Wenn heute konservative Warner die angebliche ‚Erziehungskatastrophe‘ den ’68ern‘ und/oder der sich aufwerfenden Ratgeberflut anlasten wollen, irren sie. Die Orientierung an der Expertise ist ein historisch gewachsenes Phänomen seit dem 19. Jahrhundert (…). Seither verbinden die informierten Schichten mit der expertengeleiteten Lebensführung den Anspruch, ‚richtig‘ zu handeln, setzen sich von anderen Gesellschaftsschichten ab und bevormunden sie auf der Grundlage ihres aktuellen Wissens.“

Wenn Michael Winterhoff es zulässt, dass man seine Symbiosethese der Eltern-Kind-Beziehung auf die alte Tyrannenthese reduziert und er also als Wiedergänger von Jirina Prekops Der kleine Tyrann von 1988 erscheint, kann man dies nur auf seine Unkenntnis der historisch fundierten Plausibilitätskriterien seiner Leser zurück führen. Mit Prekop ging man damals schon wieder in den pädagogischen Schützengraben. Und Winterhoff lässt sich vom Verlag den Patronengürtel umschnallen. Und was machen die informierten Schichten? Sie kaufen, laden nach und bevormunden.


http://kindheitsgeschichte.de/